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Es gab im portugiesischen Fußball eine Zeit vor Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro, und sie verweist unter anderem an einen lauen Juniabend im Jahr 2000 in der niederländischen Stadt Rotterdam. Ein Europameisterschaftsabend, an dem Portugals Seleção die von Erich Ribbeck trainierte Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes im Stadion „De Kuip“ durch eine Demütigung par excellence in eine größere Krise schoss – und der nunmehr verstorbene Franz Beckenbauer den deutschen Wortschatz um den Terminus „Rumpelfüßler“ erweiterte.
Damals schoss eine bessere Reservemannschaft der Portugiesen das DFB-Team mit einem 3:0-Sieg aus dem Turnier, und alle drei Tore erzielte ein Ersatzstürmer, der an diesem Dienstagabend in Leipzig auf der Tribüne saß: Sérgio Conceição. Warum er in Sachsen weilte? Weil sein Sohn Francisco, wie viele portugiesische Franciscos auch „Chico“ genannt und selbst Profifußballer, für Portugal im aktuellen EM-Kader steht. Der 21-Jährige bewahrte die Portugiesen im Allgemeinen und Ronaldo im Besonderen mit seinem Siegtor zum 2:1 gegen Tschechien in letzter Minute davor, das Stadion mit einem Fado auf den Lippen zu verlassen.
Auftaktsieg für die Türkei
:Am Siedepunkt dank Arda Güler
Im EM-Auftaktspiel der türkischen Nationalmannschaft gegen Georgien versinken die Fans im Dortmunder Stadion in purer Ekstase. Grund ist der widerspenstige Gegner Georgien – und die Darbietung eines famosen 19-Jährigen.
Es gab eine Reihe von Portugiesen, die sich Chico Conceição vom FC Porto sogar in der Startelf gewünscht hätten. Nach einem Transfer zu Ajax Amsterdam im Jahr 2022 war er in der vergangenen Saison zur Leihe zurück in Porto – unter dem Trainer Sérgio Conceição. Er schoss dort acht Tore in 43 Spielen, was dazu führte, dass er fix verpflichtet wurde (der Papa hingegen musste gehen). „Er hat einen Torinstinkt“, sagte Portugals Trainer Roberto Martínez – und das stellte er 112 Sekunden nach seiner Einwechslung unter Beweis.
Die Portugiesen dominieren gegen Tschechien die Statistik – überzeugend waren sie nicht
Chico war nicht ein einziges Mal am Ball gewesen, als er dann am Fünfmeterraum vor ihm lag. Eine Hereingabe des ebenfalls eingewechselten Pedro Neto war zwischen den Beinen des Tschechen Robin Hranac durchgerutscht – und Conceição schoss den Ball mit der Geistesgegenwart eines klassischen Mittelstürmers aus kurzer Distanz ins Netz, vollendete ein Notruftor, wie die Zeitung Récord meinte.
Dass der vorangegangene Angriff der Tschechen auf der gegenüberliegenden Seite des Spielfelds durch ein nicht geahndetes Foul des Verteidigers Nélson Semedo an David Doudera gestoppt worden war, wurde hernach in Leipzig nicht mehr thematisiert. Vielleicht auch deshalb nicht, weil der portugiesische Sieg bei allen Unzulänglichkeiten der Mannschaft von Trainer Roberto Martínez vor dem Hintergrund des Spielverlaufs schwer in Ordnung gegangen war. „Portugal war besser“, sagte Tschechiens Trainer Ivan Hasek. Und dennoch: „Es ist schade, in letzter Minute ein Gegentor zu bekommen“, ergänzte Stürmer Patrik Schick von Bayer Leverkusen.
Der Vortrag der Tschechen war so etwas wie eine fußballerische Hommage an Franz Kafka gewesen: Sie hatten sich – laut Hasek wider den eigenen Plan – aufs Verteidigen versteift und ein Abwehrgestrüpp entwickelt, das so unentwirrbar war wie die Herrschaftsform der Bürokratie, mit der sich der vor einhundert Jahren verstorbene Schriftsteller Kafka immer wieder beschäftigt hatte. Im Stile eines Verwaltungsjuristen zählte Roberto Martínez, der portugiesische Trainer, all die weitgehend fruchtlosen Eingaben auf, die seine Mannschaft im Laufe der insgesamt drögen Partie gemacht hatte. Er kam unter anderem auf 13 Ecken (Tschechien: null), 18 Torschüsse (Tschechien: einen) und 70 Prozent Ballbesitz. Er hätte auch die Zahl der Angriffe (74:18), der Flanken (33:7) oder der Pässe aufzählen können (713:253). Überzeugend waren die Portugiesen gleichwohl nicht.
Trainer Martínez findet, Portugal habe gewonnen, „weil die Mannschaft gezeigt hat, dass sie eine Einheit ist“
Unter anderem sprach Bände, dass der zum Innenverteidiger umfunktionierte Außenbahnspieler Nuno Mendes der auffälligste Spieler war. Die Versuche, Ronaldo in Zellophan verpackte Bälle im Strafraum zu servieren, gingen zwar nicht immer, aber oft schief. Wenn sie doch gelangen und Ronaldo zu Abschlüssen kam (8./32./ 45. Minute), wurde offenbar, dass es Ronaldo allmählich an Agilität gebricht. Die Frage, ob es mal ein Experiment wäre, ohne den 39 Jahre alten Mann zu spielen, tauchte freilich nicht einmal am Rande auf. Ronaldo wurde vom Publikum und Mitspieler Vitinha gefeiert („es ist eine Ehre, mit ihm zu spielen“), und auch Tschechiens Trainer Hasek zog „den Hut“ vor der Leistung „eines der Größten aller Zeiten“. Ronaldo habe „sein Genie gezeigt“ und sei „immer wieder zu Chancen gekommen“.
Das war zwar richtig. Aber nach dem fürwahr überraschenden Führungstreffer von Lukas Provod (62.), der mit einem feinen Innenriststoß aus 20 Metern ins Tor traf, bedurfte Portugal der gänzlich unbürokratischen Hilfe von Robin Hranac, um auszugleichen. Erst stolperte der Innenverteidiger einen Ball ins eigene Tor (69.), den ihm Torwart Jindrich Stanek bei einer Abwehraktion ans Schienbein geklatscht hatte; am Ende folgte in der Nachspielzeit die erwähnte, misslungene Abwehraktion, die Hranac endgültig zum Unglücksraben und Chico Conceição zum umjubelten Helden der Partie der Gruppe F stempelte. „Chico-mate“, wortspielte Récord: Schachmatt durch Chico, oder, wörtlich: „Chico-Matt“.
Den Portugiesen war’s recht. Auftaktsieg nach schwerem Spiel in strömendem Regen, keine Verletzten, man kann schlechter ins Turnier starten. „Wir haben nicht aus technischen, taktischen oder physischen Gründen gewonnen, sondern weil die Mannschaft gezeigt hat, dass sie eine Einheit und resilient ist“, sagte Martínez. Er lobte stellvertretend fürs ganze Team Mittelfeldspieler Vitinha und Conceição, der nicht nur Sohn der Porto-Legende ist, sondern auch der jüngste von vier Brüdern, die allesamt Fußballprofis geworden sind. Chico sei ein Beispiel dafür, dass sein Team „unglaubliche Werte“ an den Tag lege und Widrigkeiten überwinde. „Dies war ein Spiel, an dem man wachsen kann“, sagte Martínez, der schon vor Tagen erzählt hatte, sieben Hemden eingepackt zu haben: eins pro Spiel bis zum Finale.