Am vergangenen Wochenende hat Nick Woltemade noch diplomatische Verwicklungen in seiner Familie riskiert, aber diesmal bestand keine Gefahr. Vor einer Woche, bei Stuttgarts 2:2 in Bremen, war Woltemade in der Nachspielzeit vor dem Bremer Tor aufgetaucht, was ihm in diesem Moment eine tief gespaltene Verwandtschaft bescherte. Seine Mutter hält es mit Werder Bremen, sein Vater und sein Großvater tragen den VfB im Herzen, und in dieser Lose-Lose-Situation hat der in Bremen geborene und neuerdings beim VfB angestellte Woltemade tatsächlich eine friedenssichernde Lösung gefunden. Er scheiterte an Werders Torwart Zetterer, was seine Mutter glücklich machte – und Vater und Großvater zumindest nicht unglücklich, weil sich die VfB-Gemeinde nach zwei aufgeholten Rückständen längst mit einem Unentschieden angefreundet hatte.
Eine Woche später nun, beim 3:2 (0:1) des VfB gegen Union Berlin, musste Nick Woltemade keine Rücksichten mehr auf innerfamiliäre Strömungen nehmen, von Verbindungen nach Berlin ist nichts bekannt. Dank seiner beiden Tore (51., 59.) hat der VfB erneut einen Rückstand aufgeholt, aber tatsächlich ist dem 22-jährigen Stürmer an diesem Abend deutlich mehr gelungen: Der Zugang aus Bremen hat nicht nur das Spiel gedreht, sondern die Stimmung im ganzen Verein. Denn bis zu Woltemades Einwechslung war der VfB genau auf dem Weg, auf dem er nicht sein wollte; eine Halbzeit lang war die Mannschaft dabei, genau jenes Thema großzumachen, das sie so tapfer ignorieren wollte.
Wir! Sind Nicht! Müde! Mit diesem Mantra hatte Trainer Sebastian Hoeneß sein dezimiertes Team ins vierte Spiel innerhalb von zehn Tagen geschickt, aber die erste Halbzeit geriet zur ernüchternden Gegendarstellung. Dient der Ballbesitz beim VfB ansonsten zur Kontrolle des Spiels und zur Vorbereitung von Torchancen im übernächsten Moment, so diente er an diesem Abend niemandem. Die Spieler passten sich den Ball zu, weil sie das so gewohnt sind, aber die Pässe hatten kein Ziel, keine Botschaft und keinerlei Temperatur. Es war ein Schlafwandeln mit Ball, selbst dem neuerdings unfehlbaren Angelo Stiller unterliefen dreieinhalb Fehlpässe.
Es war eines dieser Spiele, bei denen man riechen und schmecken kann, was gleich passieren wird: nämlich ein sehr banales Gegentor, das seinen Ausgangspunkt in einem Einwurf von Union hatte und in einer Unentschlossenheit des VfB-Torwarts Alexander Nübel gipfelte, der sich im halbwachen Zustand nicht zwischen Fausten und Fangen entscheiden konnte. Ein Kopfballtor des Union-Verteidigers Danilo Doekhi (37.) hat die Liga zwar schon häufiger erlebt, aber selten stand er in einem vollen Strafraum so frei.
Woltemade erzielt zwei einfach aussehende, überhaupt nicht einfache Tore
„Nicht zum Anschauen“ sei die erste Hälfte gewesen, sagte Trainer Hoeneß hinterher, aber in der Halbzeit kam ihm der rettende Gedanke: Er schickte Woltemade aufs Feld – was dieses Nicht-Fußballspiel trotz eines weiteren banalen Gegentors (Skov, 48.) plötzlich in ein Fußballspiel verwandelte. „So brauchen wir Nick“, sagte VfB-Kapitän Atakan Karazor später und lobte „die brutale Physis und brutale Präsenz“ des 1,98 Meter großen Stürmers. Ein berechtigtes und auch erstaunliches Kompliment, weil es dem Vorurteil widersprach, das über Woltemade in Umlauf ist: Dass er zwar einen imposanten Körper mit sich führe, aber doch ein eher harmloser Stürmer sei. Oder dass er eigentlich gar kein Stürmer sei, sondern eher ein offensiver Mittelfeldspieler, beschenkt mit einem verblüffend feinen Fuß, den man solchen Lulatschen nie zutrauen würde. Aber eben ohne die Tugenden, die man solchen Lulatschen zutraut.
Vielleicht kommt es am Ende so, dass man auch die Geschichte vom kleinen, großen Nick demnächst als Sebastian-Hoeneß-Geschichte erzählen muss, weil es diesem Trainer möglicherweise wieder gelingen wird, die Talente eines Talentes gewinnbringend auszubauen. „Mehr in Richtung Neuner“ wolle man Woltemade „entwickeln“, hat Hoeneß kürzlich gesagt, und nach Woltemades guten Leistungen in DFB-Pokal und U21 war gegen Union besonders deutlich zu erkennen, was der Trainer beabsichtigt. Wie ein Neuner sicherte Woltemade die Bälle und leitete sie weiter, dazu erzielte er zwei einfach aussehende, überhaupt nicht einfache Tore.
Aber weil es nun mal gegen Union ging, darf auch Sportchef Fabian Wohlgemuth diesen Abend als Anerkennung begreifen. Zwar ist es ihm und seiner Abteilung bisher nicht gelungen, die spielerischen Fähigkeiten der geflohenen Abwehrspieler Waldemar Anton und Hiroki Ito zu ersetzen, aber das Woltemade-Beispiel zeigt, dass Wohlgemuth etwas geschafft hat, was Union Berlin im Vorjahr nicht geschafft hat: einen überraschenden Champions-League-Teilnehmer nicht mit grundlos verführerischen Namen zu ergänzen (Union: Gosens, Volland, Bonucci), sondern auch der Fantasie freien Lauf zu lassen. Die Stuttgarter haben unschwäbisch viel Geld für Ermedin Demirovic und Deniz Undav ausgegeben, aber sie haben sich eben auch Begabungen wie Woltemade oder Justin Diehl, 20, gesichert, auf die schwäbische Art, ablösefrei.
Die zweite Halbzeit wolle man jetzt „mitnehmen“ ins hoch bedeutsame Champions-League-Spiel gegen Young Boys Bern, hat Kapitän Karazor später gesagt, in der sicheren Annahme, dass das ausgerechnet für ihn nicht gelten dürfte. Karazor, einer der torungefährlichsten Spieler des Universums, hat gegen Union das Siegtor erzielt (69.), allerdings auf eine Weise, die sich am Mittwoch nicht nachstellen lässt. Unions Torwart Frederik Rönnow hatte ihm den Ball vor die Füße gespielt.