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Wenn es um Fragen der Migration geht, war zuletzt Giorgia Meloni die treibende Kraft in der Europäischen Union. Auf ihre Initiative hin schloss die EU mehrere lukrative Wirtschaftsabkommen mit Mittelmeerstaaten wie Tunesien, die im Gegenzug Migranten von der Überfahrt Richtung Europa abhalten sollen. Und auch in Sachen Syrien preschte die italienische Regierungschefin vor.
Melonis Regierung knüpfte im Sommer dieses Jahres wieder diplomatische Bande zum Assad-Regime, das bis dahin wegen der brutalen Unterdrückung seines Volkes von ganz Europa geächtet worden war. Einen ähnlichen Schritt empfahl Meloni auch der Europäischen Union: Man müsse „die EU-Strategie für Syrien überdenken und mit allen Akteuren zusammenarbeiten“, damit geflüchtete Menschen freiwillig und sicher dorthin zurückkehren könnten, forderte Meloni. Die EU solle dafür einen Sonderbotschafter ernennen.
Die Italienerin setzte sich, trotz Unterstützung Österreichs und einiger anderer Staaten, mit der Forderung in der Europäischen Union nicht durch – zum Glück für die EU, wie sich nun erweist. Denn Europa wäre bei den neuen Machthabern diskreditiert, hätte sie wirklich wieder mit dem Diktator Assad zusammengearbeitet.
:Syrien: Rebellenallianz ebnet Weg für Übergangsregierung
Mohammed al-Baschir, bislang Regierungschef in der Rebellenhochburg Idlib, wurde laut Medienberichten mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Nach dem Sturz Assads stoppt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorerst alle Entscheidungen über Asylanträge von Syrern.
Brüssel kennt die Chancen und die Risiken der neuen Lage
Jenseits der Erleichterung über das Ende eines grausamen Regimes prägen jetzt zwei Überlegungen die Syrien-Politik der EU. Da ist zum einen die offensichtliche Schwäche von Russlands Präsident Wladimir Putin, der den Umsturz in Damaskus nicht verhindern konnte und möglicherweise Militärstützpunkte verliert. Sie nährt die Hoffnung, Putin könnte demnächst auch in der Ukraine ans Ende seiner kriegerischen Kräfte kommen. Und zum anderen eröffnet der Fall von Assad die Möglichkeit, dass in Syrien ein, wenn nicht demokratischer, so doch sicherer Staat entsteht, in den syrische Flüchtlinge zurückkehren können. Mehr als eine Million Menschen sind wegen der Unterdrückung des Arabischen Frühlings und des folgenden Bürgerkriegs nach Europa geflüchtet.
„Dieser historische Wandel in der Region eröffnet Möglichkeiten, ist aber nicht ohne Risiken“, schrieb Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Wochenende auf dem Kurznachrichtenkanal X. Die Risiken, die sie meinte, sind offensichtlich: neuer Bürgerkrieg, neuer Dschihadismus, der die ganze Region in Brand stecken und noch mehr Menschen zur Flucht nach Europa treiben könnte.
Die EU hat ihre diplomatischen Beziehungen zu Syrien im Mai 2011 abgebrochen, jegliche systematische wirtschaftliche Zusammenarbeit beendet und Sanktionen gegen Assad und sein Regime verhängt. Aus verschiedenen Programmen finanzierte sie jedoch humanitäre Hilfe für die Bevölkerung in Syrien sowie für Flüchtlinge in Libanon, Jordanien, Irak und der Türkei.
Die Estin muss nun Syriens Wandel begleiten und die Beziehungen neu gestalten
Nun gibt nicht mehr Giorgia Meloni den Ton an, wenn es um Syrien geht. Es ist vor allem die Aufgabe der neuen EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas, den Wandel in dem Land zu begleiten und die Beziehungen zwischen Syrien und der EU neu zu gestalten.
Die ehemalige estnische Regierungschefin hat ihr Amt mit dem Anspruch angetreten, die starke außenpolitische Stimme Europas zu werden. Ihr Ziel ist es vor allem, der Ukraine im Kampf gegen Russland den Rücken zu stärken. Nun muss sie unverhofft zeigen, dass sie auch von Nahostpolitik etwas versteht. Ihr Vorgänger, der Spanier Josep Borrell, mühte sich immer wieder vergeblich um eine gemeinsame europäische Linie. Kallas wird es nicht leichter haben. Bereits am Montag kündigte die französische Regierung an, einen Sondergesandten nach Syrien zu entsenden.
Kaja Kallas zog bereits erste Kritik einzelner Mitgliedstaaten auf sich, weil sie zu Amtsbeginn gleich den obersten Beamten ihres Auswärtigen Dienstes seines Amtes enthob und die Stelle neu ausschrieb. Lag es daran, fragt man sich in Brüssel, dass die Außenbeauftragte bis zum Wochenende stumm blieb zu den Vorgängen in Syrien und nur mitteilte, „man beobachte“ die Situation.
Mittlerweile liegt von ihr eine längere Erklärung vor. Sie forderte namens der EU-Länder alle Staaten in der Region auf, die territoriale Unabhängigkeit Syriens zu achten, was man als leise Kritik am Vorrücken Israels auf den Golanhöhen werten konnte. Darüber hinaus versicherte Kallas, im Gespräch mit allen „konstruktiven“ Partnern in Syrien und in der ganzen Region zu sein. Welche genau das sind, wollte oder konnte ihr Sprecher am Montag bei der Pressekonferenz der Kommission nicht preisgeben. Hingegen erklärte er, mit wem die EU definitiv nicht in Kontakt stehe: Abu Mohammad al-Dschaulani, Chef der Miliz namens Hayat Tahrir al-Scham (HTS), die die Rebellion gegen Assad anführte.
Die Miliz HTS, entstanden als Zweig von al-Qaida, ist von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestuft worden und auch ihr Anführer steht auf der Terrorliste, und diese Einstufungen hat die EU übernommen. HTS gibt sich zwar mittlerweile einen moderateren Anstrich, aber man werde die Miliz nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten messen, hieß es in der Kommission.
In vielen Mitgliedsländern haben bereits die Debatten begonnen, ob nun alle Sanktionen gegen Syrien aufgehoben werden und syrische Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Dafür sei es noch viel zu früh, erklärte der Sprecher von Kaja Kallas. Dies sei eine Zeit „von großer Hoffnung, aber auch von großer Unsicherheit“.