Home » Afghanistan: Leben in Willkür und Unfreiheit – Politik

Afghanistan: Leben in Willkür und Unfreiheit – Politik

by Marko Florentino
0 comments


Was immer auch an nachvollziehbaren Gründen aus deutscher Sicht für Abschiebungen an den Hindukusch sprechen mag: Afghanistan 2024 dürfte – was die Tugend und Moralvorstellungen, die Justiz und die Frauenrechte angeht – das rückständigste Land weltweit sein. Es bietet keinerlei Rechtssicherheit, keine persönliche Freiheit, keinerlei Schutz vor Folter – die gehört in Gefängnissen zum Standardprogramm – und keinen Schutz vor der alltäglichen Willkür der bewaffneten Taliban-Kämpfer, die das Straßenbild prägen.

Die Taliban setzen auf die Scharia, das islamische Recht. Und das in seiner härtesten Form. Ihre archaische Vorstellung der islamischen Rechtsvorschriften nimmt alles wörtlich, was in den Schriften steht, und weist jede moderne Reformidee zurück: vom öffentlichen Auspeitschen und dem Abschlagen von Händen und Füßen bei Dieben, der Steinigung von Ehebrecherinnen und der Hinrichtung von Homosexuellen oder Mördern. Die Rechtsfindung selbst ist primitiv – der Begriff Gericht wäre eine Farce – und lässt den Gedanken der Rechtsstaatlichkeit nur noch absurd erscheinen.

Oft ist das Stammesrecht wichtiger als die koranische Lehre

All dies beruht nicht nur auf einer falsch verstandenen, archaischen Auffassung von den ohnehin rigiden islamischen Rechtsvorstellungen. Was die Taliban als Angehörige der extrem konservativen Volksgruppe der Paschtunen anbieten, ist eine von vormodernen stammesrechtlichen Normen durchsetzte Scharia, die das islamische Recht in seiner ganzen Härte noch übertreffen und teilweise auch konterkarieren: Oft genug ist das Stammesrecht wichtiger als die koranische Lehre.

Frauen haben in den Stammesnormen der Paschtunen keinerlei Rechte, sondern haben de facto den Status von männlichem Besitz. Dazu passt das Tugendgesetz, dass die „Koranschüler“ erlassen haben. Das nimmt Frauen und Mädchen praktisch alle Rechte, verbannt sie aus dem öffentlichen Leben. Der Schulbesuch ist Mädchen nur noch bis zur sechsten Klasse gestattet, Frauen dürfen kaum noch außerhalb des Haushaltes arbeiten, keine Jobs bei NGOs annehmen.

Nicht einmal laut sprechen dürfen Frauen in der Öffentlichkeit

Sie dürfen sich vor allem nicht ohne einen männlichen Verwandten, einen „Mahram“ oder Wächter, in der Öffentlichkeit bewegen. Geschweige denn, dass sie ohne ihn durch das Land reisen oder auch nur im Taxi sitzen dürften. Fitness- und Schönheitsstudios für Frauen werden geschlossen, strengste Verhüllung ist Zwang, schon der Arztbesuch wird zum Problem. Nicht einmal laut sprechen dürfen Frauen in der Öffentlichkeit – ihre Stimmen könnte die Männer auf unsittliche Gedanken bringen.

Das letzte Wort in allen politischen und theologischen Fragen hat Hibatullah Achundsada, der geistliche Führer der Taliban. Der ehemalige Prediger und islamische Richter ist als extremer Hardliner bekannt. Auch dank ihm steht Afghanistan 2024 damit dort, wo sich das Land 1996 zum Entsetzen der Weltöffentlichkeit befand – nach der ersten Machtübernahme der Islamisten. Damals hatten die sogenannten Koranschüler – also die in einer radikal-islamischen Miliz organisierten Abgänger von Madrasas – den afghanischen Bürgerkrieg nach mehreren Jahren der Kämpfe gewonnen. Die erste Taliban-Herrschaftsperiode endete 2001 nach den New Yorker Anschlägen des 11. September und mit dem US-Einmarsch am Hindukusch.

Die Taliban 2024 sind die Taliban von 1996

Auch wenn vor der ersten Taliban-Regierungsübernahme im Bürgerkriegsland weit weniger Freiheiten für Frauen bestanden hatten als in den zwanzig Jahren der späteren prowestlichen Regierungen in Kabul, bedeutete das Auftauchen der Koranschüler für die Frauen schon damals nur das Übelste. Die Burka oder andere starke Verschleierungen trugen sie ohnehin. Aber jetzt sollten sie nicht einmal mehr Absätze tragen dürfen, weil die auf der Straße klapperten beim Laufen und weil das Nahen einer Frau die Männer zu unfrommen Gedanken verführen würden: Die Taliban 2024 sind die Taliban von 1996.

Verboten ist auch Musik, die Bänder der zerrissenen Tonbandkassetten hingen 1996 wie Totems an den Dorfeingängen. Vollbart ist Pflicht für einen Mann: Die Länge wird mit der Faust getestet – wenn das Haar nicht unten aus der geschlossenen Hand des Taliban-Polizisten hervorschaut, ist er zu kurz und verstößt gegen eine angebliche Vorgabe des Propheten Mohammed. Über all diese Vorschriften wacht ein Ministerium „zur Verhinderung des Lasters und zur Verbreitung der Tugend“, das in alle Lebensbereiche eindringen kann.

Wer den Taliban 2021 nach ihrem erneuten Einmarsch in Kabul geglaubt hat, wird nun der Wahrheit ins Gesicht sehen müssen: Nach ihrer Machtübernahme hatten sie vorgegeben, sich zu mäßigen. Von Bildung und Schulen für Mädchen und Frauen war die Rede – Voraussetzung seien lediglich geeignete Schulen, die die Geschlechtertrennung garantierten und die bald gebaut würden. All das war Teil der durchschaubaren Hinhaltetaktik, mit der die Koranschüler – bis heute offiziell noch immer erfolglos – um internationale Anerkennung buhlen. Aber dass Berlin im Hinblick auf Abschiebungen mit ihnen redet, zeigt, dass die Taliban an Boden gewinnen.



Source link

You may also like

Leave a Comment

NEWS CONEXION puts at your disposal the widest variety of global information with the main media and international information networks that publish all universal events: news, scientific, financial, technological, sports, academic, cultural, artistic, radio TV. In addition, civic citizen journalism, connections for social inclusion, international tourism, agriculture; and beyond what your imagination wants to know

RESIENT

FEATURED

                                                                                                                                                                        2024 Copyright All Right Reserved.  @markoflorentino