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Alexander Zverev war gar nicht zufrieden, regelrecht verzweifelt wirkte er – wie einer, der ganz dringend etwas sucht, es einfach nicht finden kann und deshalb immer ungeduldiger wird. „No!“, brüllte er zunächst, dann „eeeh“, und schließlich das lang gezogene „Aaaargh“ von einem, der jetzt endlich finden und nicht mehr suchen will; was in der leeren Arena umso lauter hallte. Es war nur ein Trainingsspiel, gegen den Dänen Holger Rune, zwei Tage vor Beginn der Australian Open – da kann man schon noch tüfteln beim Bestreben, die beidhändige Rückhand perfekt zu platzieren. Und doch kann man das, was da passierte, als Mikro-Beispiel dafür sehen, was Zverev gerade im großen Ganzen erlebt.
Die Nummer zwei der Weltrangliste ist der Deutsche derzeit, hinter Titelverteidiger Jannik Sinner, als solcher darf man bei einem Grand Slam nur ein Ziel haben: „Ich will das Turnier gewinnen.“ Alles außer dem Triumph wäre also eine Enttäuschung, damit ist natürlich die Messlatte gelegt: Es braucht das bestmögliche Tennis.

:Clown under
Der Serbe taucht bei der Pressekonferenz Alexander Zverevs auf und befragt den deutschen Tennisprofi zum Weltall – und zu seinem fehlenden Grand-Slam-Titel. In einem Magazin erhebt Djokovic nochmals schwere Vorwürfe in Bezug auf seine Abschiebung 2022.
Was im Training passierte nach jeder Rückhand, die nicht genau dort landete, wo Zverev sie haben wollte: kurzer Ärger, dann der Blick zu den beiden Personen in den Ecken des Spielfelds hinter ihm. Vater Alexander senior deutete an, dass sich der Filius ein ganz klein wenig offener positionieren solle, dann riet er zu mehr Topspin. Bruder Mischa empfahl nach einem nicht perfekten Schlag – es ging wirklich um Zentimeter –, sich nicht noch mehr aufzuregen, sondern locker zu machen. Die Ratschläge innerhalb von weniger als zehn Minuten: Justieren der Beinarbeit, Justieren der Schlagtechnik, Arbeit an der geistigen Haltung nach Fehlern.
Laut Boris Becker fehlt Zverev nur noch eine Winzigkeit zum großen Sieg – aber wo findet man die?
„Dieses eine Prozent fehlt“, sagte der Altmeister Boris Becker kürzlich über Zverevs Jagd nach dem Triumph, der ihm bisher noch fehlt: ein Sieg bei einem der vier wichtigsten Turniere der Welt. Ein Prozent, eine Winzigkeit. Die Frage ist nur: Wo genau findet man dieses Prozent?
Aus aktuellem Anlass einige der mehr oder weniger ernst gemeinten Ratschläge, die Zverev so erhalten hat in den vergangenen Monaten. Von Partnerin Sophia Thomalla, die in Melbourne dabei ist, ein Hinweis aufs Mentale nach dem vergeigten Halbfinale 2023: „Zwei-Satz-Führung gegen Medwedew; das hättest du besser gewonnen.“ Von sich selbst nach dem verlorenen French-Open-Finale gegen den Spanier Carlos Alcaraz: „Ich muss fitter werden.“ Beinahe gleichzeitig erzählte sein früherer Trainer und der heutige Alcaraz-Coach Juan Carlos Ferrero: Sein Leben an der Seite des jungen Spaniers sei komplett anders, „nicht mehr Privatjets und Luxushotels wie mit Zverev“. Aha – geht es also um Demut? Nun riet Becker Zverev zu einem „Supercoach“ neben Vater und Bruder; und Novak Djokovic fragte, als er die Pressekonferenz von Zverev am Freitag mit einem Spontanauftritt aufheiterte: „Glaubst du, dass die Antwort darauf, einen Grand-Slam-Titel zu gewinnen, im Weltall liegt?“
Es könnte einen auch wahnsinnig machen, wenn jeder zu wissen glaubt, welches Puzzleteil genau fehlt, und dies dauernd mitteilt. Und wenn man weiß, dass sich diese Reizüberflutung nur auf eine einzige Weise stoppen lässt: mit einem Sieg.
Bei den US Open 2021 hatte Alexander Zverev über sich und andere seiner Generation gesagt, in Abgrenzung zu Seriensiegern wie Djokovic: „Ich glaube nicht, dass einer von uns 20 Grand-Slam-Titel holen wird. Es kann sein, dass wir sie unter uns aufteilen werden.“ Dreieinhalb Jahre und null solche Titel später lautet die Frage inzwischen weniger, wann der inzwischen 27-jährige Zverev Grand-Slam-Turniere gewinnen wird, und auch nicht mehr wie viele. Die Frage ist nun eher: ob überhaupt. Ende der Zehnerjahre hatte Zverev in der Erbfolge im Männertennis ganz weit oben gestanden; seither hat nicht nur der fast gleichaltrige Russe Daniil Medwedew einen großen Titel geholt, sondern auch schon Vertreter der darauffolgenden Riege: Alcaraz, Sinner. Und es klopft bereits die Next-Next-Next Gen an die Tür: zum Beispiel João Fonseca, 18, aus Brasilien und Jakub Mensik, 19, aus Tschechien.
Noch ein Ratschlag deshalb, wieder von Becker: „In den nächsten 18 Monaten sollte es passieren, sonst wird es deutlich schwieriger.“

Man kann Zverev wohl eher nicht vorwerfen, dass er nicht alles für den ersehnten Triumph tut – wobei er offenbar noch keinen Flug in einer Jeff-Bezos-Kapsel gebucht hat, um tatsächlich mal im Weltall nachzusehen, wie von Djokovic angeregt. Im Herbst wechselte er den Schläger („Die Bälle heutzutage sind so langsam, dass du eher Power brauchst und weniger Kontrolle“). In der Winterpause gönnte er sich gerade mal zwei Tage Auszeit, außerdem holte er den Fitnessguru Jez Green in sein Team zurück. Und er tüftelt augenscheinlich an seiner Positionierung auf dem Court, lässt sich seltener weit hinter die Grundlinie zurückfallen, übernimmt im Ballwechsel früher die Initiative.
Was er nicht tun will: seinem Team eine weitere Person hinzufügen oder dem Vater eine Pause gönnen. Obwohl das einer der meistgenannten Ratschläge ist und, wie Zverev vor dem Turnierstart einräumte, offenbar auch der Senior darüber nachdenkt: „Er ist manchmal schon so: ‚Ich will nicht mehr zu Turnieren reisen oder bei jeder einzelnen Session dabei sein‘“, sagte Zverev über seinen Vater. Nur: „Ich hatte schon viele andere Trainer; ich glaube immer noch, dass er der beste ist, den ich je hatte.“ Vater und Bruder seien seine Trainer, fertig: „So sehe ich sie: als Trainer, und deshalb funktioniert es so gut, deshalb ist es eine so gesunde Beziehung: Wir können Privates und Tennis trennen.“

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Das 6:4, 6:4, 6:4 gegen Lucas Pouille war noch kein echter Härtetest
So tüftelt und sucht er also; in einem Umfeld, das er für ideal hält. Dieses eine Prozent liegt für ihn woanders. Und wo? Die Erstrundenpartie gegen den Franzosen Lucas Pouille am Sonntag war jedenfalls noch kein echter Härtetest. Der 6:4, 6:4, 6:4-Sieg kam derart entspannt daher, dass Zverev später tatsächlich in die Rod Laver Arena zurückkehrte für eine Mitternachts-Einheit. Da waren wieder „No“, „Eeeh“ und „Aaaargh“ zu hören und nach jedem Ballwechsel Tipps des Vaters. Suche nach Perfektion, die es gegen mögliche Halbfinal-Gegner wie Djokovic oder Alcaraz brauchen dürfte.
Alles entspannt erst mal, deshalb konnte Zverev danach auch über sein Trainer-Duo scherzen, das bei diesen Australian Open zum ersten Mal nicht mehr auf der Tribüne, sondern direkt neben dem Spielfeld sitzen darf. „Ich mag das nicht“, sagte Zverev, „aber was hätte ich tun sollen? Sie mit gepackten Koffern daheim lassen? Dann hätte ich kein Essen mehr von Mama gekriegt.“ Und sollte es am Ende wieder nicht klappen mit dem Triumph, bleibt Zverev ja immer noch die Suche im Weltall.