Streiks nerven Viel- und Gelegenheitsfahrer der Deutschen Bahn gleichermaßen. Doch was machen sie mit einer Person, die Tag und Nacht auf den Zug angewiesen ist? Lasse Stolley ist 17 Jahre alt, besitzt seit eineinhalb Jahren eine Bahncard 100 und lebt auf der Schiene. Von dort arbeitet er nebenbei als Programmierer für ein Software-Start-up. Die SZ erwischt ihn am Freitagmittag in der DB-Lounge des Frankfurter Hauptbahnhofs. Hier wartet er darauf, dass der Bahnbetrieb am Abend wieder anläuft.
SZ: Hallo Herr Stolley, wo haben Sie denn die vergangene Nacht verbracht?
Lasse Stolley: Geschlafen habe ich im Frankfurter Flughafen, in der Ankunftshalle. Ich habe mich auf eine Bank gelegt. Wirklich gemütlich war das nicht.
So, so.
Ich habe lange geschaut, ob irgendein Zug über Nacht unterwegs ist, habe aber nichts gefunden. Also habe ich mich für den Flughafen entschieden. Das war auch nicht das erste Mal. Und zum Glück war ich auch nicht allein dort, die Lufthansa hat ja auch gestreikt. Für mehr als zwei Nächte würde ich das aber nicht empfehlen.
Für die meisten wäre Ihr Zugleben vermutlich ohnehin nichts, lieber Herr Stolley.
Ach, ich bin eigentlich immer noch ziemlich entspannt, obwohl gerade die Streiks natürlich eine große Einschränkung sind. Gleichzeitig habe ich großes Verständnis für die Streikenden, allein von dem, was ich jeden Tag im Kundenkontakt sehe. Vor allem die Forderung nach einer geringeren Arbeitszeit kann ich absolut nachvollziehen.
Streiks sind bei der Bahn aber nicht das einzige Problem. Verspätungen, schlechtes Wlan …
Absolut. Gerade das Internet ist für mich ein großes Thema wegen meines Jobs. Eine meiner ersten Investitionen war deswegen auch ein Internetvertrag mit unbegrenztem Datenvolumen.
Wäre es nicht einfacher für Ihren Arbeitsalltag, die Züge in anderen Ländern zu nutzen, wo sie pünktlich fahren und das Internet zuverlässig ist?
Mein Zugleben funktioniert in anderen Ländern kaum. Deutschland ist groß genug, damit ich die ganze Nacht in einem Zug unterwegs sein kann. In Ländern wie der Schweiz kann ich so lang am Stück nicht fahren. Wenn ich eins in den vergangenen Jahren gelernt habe, dann, dass Schlaf das Wichtigste für meinen Alltag ist.
Und den bekommt man in den Nachtzügen wirklich ohne Probleme?
Ich habe in den ersten Monaten des Lebens im Zug gelernt, wie es am besten funktioniert. Mit meiner Bahncard 100 kann ich ja nur auf die Sitzplätze zurückgreifen, also keine Liegewagen nutzen. Da muss ich schon ziemlich kreativ werden: Ich lag schon mit der Luftmatratze in der Gepäckablage und im Bordrestaurant oder habe mich quer über die Sitze ausgebreitet. Am Anfang war der Schlaf ein großes Problem, inzwischen wecken mich nicht einmal mehr die Durchsagen in der Bahn auf.
Stört Sie überhaupt noch etwas?
Einiges. In Ausnahmesituationen, wie ich sie fast jeden Tag erlebe, nervt mich zum Beispiel die mangelnde Kommunikation der Bahn. Der größte Punkt ist aber die fehlende Privatsphäre. Wenn ich morgens aufwache, starren mich oft schon mehrere Menschen an. Ich musste lernen, damit umzugehen, dass ich an den meisten Tagen keinen Rückzugsort habe. Da sind dann Kopfhörer das höchste der Gefühle.
Auch essen, duschen und waschen dürfte schwierig sein.
Zum Essen gehe ich regelmäßig in die DB-Lounges, die es an den sieben größten Bahnhöfen in Deutschland gibt. Duschen funktioniert meistens gut in öffentlichen Schwimmbädern in der Nähe der Bahnhöfe. Schwieriger wird’s beim Waschen, meistens muss ich das unterwegs per Hand im Waschbecken erledigen. Das ist oft zeitaufwendig, aber selbst das gibt mir das Gefühl von Freiheit, das ich so mag.
Aha, darum geht es Ihnen also.
Kann man so sagen. Ich hatte nach meinem Realschulabschluss eigentlich einen Ausbildungsplatz sicher, der mir kurzfristig abgesagt wurde. Zur Schule wollte ich auch nicht weiter gehen. Und dann war für mich klar: Ich muss einfach raus. Auch weil meine Jugendzeit oft schwierig war, wollte ich einfach frei sein.
Aber irgendwann werden Sie doch ein bisschen Sehnsucht nach einem «normalen» Leben haben.
Das Verlangen nach Freiheit ist sogar immer stärker geworden. Ich sehe nicht, dass mich in den nächsten Monaten und Jahren irgendetwas dazu bewegen würde, sie aufzugeben. Ich genieße es einfach unglaublich, dass ich jeden Tag neu entscheiden kann, wo ich sein möchte. Und ich glaube, dass sich viele Dinge mit dem Leben im Zug kombinieren ließen. Ich würde zum Beispiel gern mit der Deutschen Bahn zusammenarbeiten, um nachfolgenden Generationen ein besseres Bahnfahren zu ermöglichen. Bisher ist da aber noch nichts passiert.
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