Die Kieler taten, was Fußballmannschaften tun, wenn sie einen wirklich harten Abend hinter sich haben. Ein Arm wurde um den anderen gelegt, dann rückten die Spieler zusammen und bildeten einen Kreis. Dieser Kreis dürfte sogar noch mal enger gewesen sein als handelsübliche Mannschaftskreise. Dort wurden dann leidenschaftliche Ansprachen und Gesten ausgetauscht, ehe sich die Kieler auf eine Stadionrunde begaben, bei der Applaus, vereinzelter Jubel und sicher viele aufbauende Worte in Empfang genommen wurden.
So weit, so normal für einen Außenseiter, der gerade 1:6 gegen den riesengroßen, einschüchternden FC Bayern verloren hat. Deswegen streicht an einem dritten Spieltag keiner die Segel, zumal aufs Segelstreichen an der Kieler Förde noch mal etwas kritischer geblickt würde als anderswo. Referenzen zu Schifffahrt oder Seemännern kann sich keiner entziehen, der mehr als eine halbe Stunde in der Küstenstadt verbringt, und so war auch der Rocksound nach Spielende nicht gerade sparsam damit. „Ich wünsch dir immer eine Handbreit Wasser – unterm Kiel“, dröhnte es im schnuckeligen Holstein-Stadion. „Ahoi, mach’s gut.“
Ahoi, mach’s gut? Das klang nach Abschied und somit alles andere als erbaulich.
Die Kieler haben am Samstag kein Lehrstück über den Abstiegskampf aufgeführt, sondern allen Aufsteigern dieser Fußballwelt gezeigt, was es in dieser Rolle tunlichst zu vermeiden gilt. Eine (unvollständige) Sammlung: Unbedingt zu unterlassen sind Gegentreffer nach nur 14 Sekunden, durch die man sich die Möglichkeit nimmt, „erst mal die Null zu halten“ und das weitere Geschehen offenzulassen, wie der Kieler Stürmer Benedikt Pichler zutreffend analysierte. Ebenfalls verzichtet werden sollte auf individuelle Patzer wie jenen von Lewis Holtby, der sich den Ball am eigenen Strafraum abholte und umgehend weiter in die Füße des abschlussbereiten Gegners passte.
Denn wer nach sieben Minuten 0:2 hinten liegt, tut sich erfahrungsgemäß noch schwerer damit, den wuseligen Beinen eines Jamal Musiala oder der eiskalten Abschlussstärke eines Harry Kane Einhalt zu gebieten. Dann steht es zur Halbzeit schnell mal 0:4. Und dann freut man sich auch mal über die ganz kleinen Dinge eines Fußballerlebens, etwa über den Kopfballtreffer von Armin Gigovic in der zweiten Hälfte oder über die Tatsache, dass es kein 0:7, 0:8 oder 0:9 wurde.
Mit ihrer Transferstrategie haben sich die Kieler auf einen Wettlauf gegen die Zeit eingelassen
Die Bayern seien „zum falschen Zeitpunkt“ gekommen, sagte Pichler und meinte damit: Nach eher knappen Niederlagen gegen Wolfsburg und Hoffenheim hätte man am dritten Spieltag nichts gegen einen Gegner aus einer anderen Gewichtsklasse gehabt. Denn die Kieler kalkulieren eine gewisse Eingewöhnungsdauer ein, bis sie wirklich gerüstet sind für die kleinen und großen Bedrohungen in der Erstklassigkeit.
Nicht gerade furchterregende zwei Millionen Euro weist der Transfersaldo nach dem Sommer aus, ein beträchtlicher Anteil davon floss in die Anschaffung des eingewechselten Torschützen Gigovic (1,8 Millionen, verpflichtet vom FK Rostow). Dem Mittelfeldmann wird großes Potenzial bescheinigt, er ist aber nicht als Soforthilfe gedacht, sondern soll sich in den nächsten Wochen und Monaten auf entsprechendem Niveau einfinden. So haben die Kieler schon in der zweiten Liga operiert: Sie investieren ihr überschaubares Budget lieber in die Zukunft als in die Gegenwart. Mit Blick auf den Klassenverbleib haben sie sich da allerdings auf einen Wettlauf gegen die Zeit eingelassen: Zu viele Niederlagen zu Beginn schütten Fluchtwege in der heißen Saisonphase zu, und einen dieser Wege wollen die Kieler schließlich durchschreiten.
„Trotzdem haben wir uns nicht hängen lassen“, sagte Holstein-Coach Marcel Rapp
Perspektivisch müssen sie daher dringend bewährte Underdog-Tugenden wie Kompaktheit, Cleverness und Zweikampfhärte reaktivieren, ohne dabei zu sehr aus dem grundsätzlich optimistischen Spielansatz des Holstein-Trainers Marcel Rapp auszubrechen. Jener Rapp musste das Spiel gegen die Bayern wegen einer Rotsperre von einem Logenplatz verfolgen, bei etwas eingeschränkter Sicht, wie er hinterher im weißen T-Shirt vor dem Kieler Mannschaftsbus erklärte.
Was er sah, rief bei ihm dennoch keinen Defätismus hervor. „Es ist, wie es ist“, sagte er und schob mit Blick auf zweite Hälfte nach: „Trotzdem haben wir uns nicht hängen lassen.“ In einer etwas anderen Stimmungslage ging dagegen Tim Becker in den Feierabend. „Das war einfach schlecht und ist unerklärlich“, fand der Verteidiger. „Wir haben uns in die Hosen geschissen. Ich bin richtig wütend.“ Das Wasser stand aus seiner Sicht mindestens eine Handbreit zu hoch – aber steht es den Kielern nach diesem Auftritt bereits bis zum Hals?