Es sind erschreckend hohe Zahlen und sie sind vor allem konstant hoch: 16 375 Kinder wurden im Jahr 2023 laut der polizeilichen Kriminalstatistik Opfer sexuellen Missbrauchs. Im Vorjahr waren es 15 520. Dunkelfelderhebungen gehen davon aus, dass etwa jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland sexuelle Gewalt erlebt hat, unter Frauen sogar jede fünfte bis sechste.
Die Bundesregierung beschäftigt das Thema seit 2010 – nachdem zahlreiche Fälle am katholischen Canisius-Kolleg bekannt wurden. Nun hat das Bundeskabinett ein Gesetz verabschiedet, mit dem Betroffene stärker unterstützt und Kinder besser geschützt werden sollen. Doch was steht genau drin? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Welche Änderungen sieht das Gesetz vor?
Das Gesetz zielt zum einen darauf ab, die rechtliche Stellung von Betroffenen sexualisierter Gewalt zu stärken. Es soll also dabei helfen, bereits erlittenes Unrecht zu lindern und aufzuarbeiten. Zweitens soll der Staat verpflichtet werden, Maßnahmen zu treffen, um Kinder und Jugendliche vor sexueller Gewalt zu schützen. Und drittens ist geplant, das Amt der „Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ (UBSKM) gesetzlich dauerhaft zu verankern und eine Berichtspflicht an den Bundestag einzuführen.
Wie sollen Kinder und Jugendliche konkret geschützt werden?
Vorgesehen ist, dass der Staat verpflichtende Maßnahmen trifft, um Kinder und Jugendliche vor sexueller Gewalt zu schützen, „insbesondere in Einrichtungen, die der Beaufsichtigung, Betreuung, Erziehung oder Ausbildung Minderjähriger dienen“. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) soll Informationsmaterialien entwickeln, die Fachkräfte, Eltern und Kinder altersgerecht für das Thema sensibilisieren. Die BZgA soll Einrichtungen auch dabei beraten, Schutzkonzepte zu entwickeln. Die als Projekt bereits existierende „Medizinische Kinderschutzhotline“, die Kinderärzte, Familienrichter oder Jugendhilfe-Mitarbeiter in Verdachtsfällen kontaktieren können, soll dauerhaft eingerichtet werden.
Wie wird die Stellung Betroffener gestärkt?
Zum Beispiel durch ein bundesweites zentrales Beratungssystem: Dabei helfen externe Fachleute Betroffenen dabei, die individuell erlebte Gewalt aufzuarbeiten, und beraten sie in der Auseinandersetzung mit Institutionen – so der Plan. Hilfetelefone gibt es bereits, erstmals wird ihre Existenz aber auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Außerdem sollen Betroffene ein gesetzlich verbrieftes Recht auf Akteneinsicht erhalten, konkret auf „Einsicht in Erziehungshilfe-, Heim- oder Vormundschaftsakten“. Akten über Kinder und Jugendliche müssen zudem lange aufbewahrt werden: nach dem 30. Geburtstag der Betroffenen noch weitere 20 Jahre.
Was ändert sich bei der Missbrauchsbeauftragten?
Die beim Bundesfamilienministerium angesiedelte Position wird durch das neue Gesetz dauerhaft abgesichert. Der oder die UBSKM soll gleichgestellt werden mit etwa dem Wehr- oder Datenschutzbeauftragten des Bundestages, vom Bundestag gewählt werden und diesem einmal im Jahr verpflichtend Bericht erstatten.
Wieso ist das nötig?
Das Amt des Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten (UBSKM) wurde 2010 als Reaktion auf den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche eingerichtet. Nach aktuellem Stand hat das Amt aber keine gesetzliche Grundlage. Die amtierende UBSKM Kerstin Claus übt ihre Funktion, genauso wie ihre Vorgänger Christine Bergmann und Johannes-Wilhelm Rörig, nur auf Basis eines Kabinettsbeschlusses aus. Damit besteht aber die Gefahr, dass ein neues Kabinett das Amt irgendwann nicht weiter verlängert und das Thema in der Versenkung und aus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit verschwindet.
Deshalb hofft die amtierende UBSKM Kerstin Claus auch auf eine breite parlamentarische Mehrheit für das Gesetz: Es gehe hier um ein Signal politischer Verantwortungsübernahme an Betroffene, sagte Claus. Im Gesetz ist auch eine sogenannte Dunkelfeldstudie angekündigt: Da viele Missbrauchstaten nach wie vor nicht bei der Polizei angezeigt werden, kennt man aus der polizeilichen Kriminalstatistik nur das sogenannte Hellfeld. Eine Dunkelfeldstudie könnte statistisch erfassen, wie viele Menschen in Deutschland tatsächlich Opfer sexueller Gewalt geworden sind.
Wie sind die Reaktionen von Betroffenen-Organisationen?
Grundsätzlich wird gelobt, dass ein Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt gesetzlich verankert werden soll. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs beim Bund nennt das Gesetz einen „Meilenstein“. Sie bemängelt allerdings – genauso wie die Betroffenen-Organisation „Eckiger Tisch“ – dass es im Gesetz nicht vorgesehen ist, gesellschaftliche Institutionen wie Kirchen oder Sportverbände zur Aufarbeitung zu verpflichten. Keine Institution dürfe sich der Aufarbeitung verweigern. „Das bedeutet vor allem, dass alle Betroffene ein umfassendes Akteneinsichtsrecht haben müssen“, heißt es von der Aufarbeitungskommission. „Dieses darf nicht nur für die Kinder- und Jugendhilfe gelten, es muss auch andere Bereiche wie Schule, Sport und Kirchen mit einbeziehen.“
Wie ist das Akteneinsichtsrecht bei Kirchen bislang geregelt?
Die katholischen Bischöfe haben sich 2020 gegenüber dem Vorgänger von Kerstin Claus zur Einhaltung von Aufarbeitungs-Standards verpflichtet. In dieser so genannten „Gemeinsamen Erklärung“ heißt es allgemein, dass Betroffenen „im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten“ Zugang zu Informationen und Unterlagen gewährt werden müsse. Präziser wird die Erklärung hier aber nicht.
Wie konkret Akteneinsicht gestaltet wird, entscheidet aber bislang jede der 27 katholischen Diözesen unterschiedlich. Die meisten gewähren sie Forschungsinstituten, Rechtsanwaltskanzleien und den Aufarbeitungskommissionen. Das Bistum Essen erlaubt seit Februar auch betroffenen Privatpersonen, unter bestimmten Bedingungen Einsicht in die Akten zu nehmen. Besonders schwierig gestaltet sich die Akteneinsicht bei Ordensgemeinschaften. Nicht wenige haben ihre Zentralen in Rom, wo auch die Akten lagern – und sich dort dem Zugriff deutscher Aufarbeitung entziehen. Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat im Dezember 2023 eine Gemeinsame Erklärung mit der UBSKM unterzeichnet und sie hatte schon 2021 ihr Datenschutzgesetz geändert, aber auch hier ist Akteneinsicht nur Forschern und Aufarbeitungskommissionen erlaubt.
Was soll das Gesetz kosten?
Das Budget der Missbrauchsbeauftragten beträgt in diesem Jahr 11,7 Millionen Euro. Geplant ist, dass vom kommenden Jahr an jährlich rund 2,5 Millionen Euro für die Unterstützung von Betroffenen bei der individuellen Aufarbeitung und 1,95 Millionen Euro für ein Forschungszentrum zu sexueller Gewalt hinzukommen. Für 2025 wird insgesamt mit Mehrausgaben von 4,45 Millionen Euro gerechnet, ab 2026 jährlich mit 7,4 Millionen Euro. Sie sollen aus dem Haushalt des Familienministeriums kommen.