Käfer, Ameisen, Skorpione oder Krebse schützen sich mit einem Panzer aus Chitin vor Austrocknung und Fressfeinden. Das natürliche Material ist ebenso Bestandteil schwer zu knackender Hummerschalen, wie zarter Libellenflügel oder der weichen Hülle von Mehlwürmern. Forschende arbeiten nun daran, dass Chitin künftig ebenso vielseitig wie in der Natur auch am Bau und in anderen Industriezweigen eingesetzt werden kann.
Die Herausforderung besteht darin, Chitin chemisch so umzubauen, dass neue Materialien entstehen, also zum Beispiel fester Schaum, Verbundwerkstoffe oder Beschichtungen. Dafür muss Chitin etwa durch Wasserentzug, Mineralisation oder Zugabe von Treibmitteln chemisch verändert werden.
Besonders im Bausektor ist der Bedarf an innovativen Baustoffen enorm. Herkömmliche Baumaterialien verursachen derzeit einen beträchtlichen Teil der globalen CO₂-Emissionen. Und wenn die Gebäude dann irgendwann wieder abgerissen werden, entsteht ein Haufen Bauschutt, wobei gerade das Recycling von Verbundwerkstoffen bisher nur begrenzt möglich ist.

:Wer will schon mit Müll bauen?
Beton, Ziegel und Fliesen: Eine neue Verordnung sollte dazu führen, dass Bauabfall besser recycelt wird. Passiert ist das Gegenteil.
Verbundwerkstoffe bestehen aus mindestens zwei Ausgangsmaterialien, die miteinander verbunden werden. Ziel ist ein Endprodukt mit bestimmten passenden Eigenschaften, also zum Beispiel zugleich leicht und stabil ist. In den heute gängigen Verbundwerkstoffen stecken oft Polymere, die häufig aus fossilen Rohstoffen hergestellt werden. Das Recycling solcher Verbundwerkstoffe ist kompliziert und energieintensiv. Deshalb landen die meisten Verbundwerkstoffe nach ihrer Nutzung auf einer Deponie oder in der Verbrennung, was zusätzliche CO₂-Emissionen verursacht.
Eine mögliche Alternative bieten Bioverbundwerkstoffe aus natürlichen Komponenten, die organisch abbaubar, ungiftig und nachwachsend sind. Einen solchen Werkstoff hat nun eine Gruppe Forschender der Universität Stuttgart entwickelt. Dem Team ist es gelungen, sogenannte Chitosan-Flachs-Biokomposite herzustellen. Diese Werkstoffe bestehen aus Flachsfasern als verstärkendes Element und dem Biopolymer Chitosan als Bindemittel. Dieses ist ein Chitin-Derivat, also eine chemische Verbindung, die aus Chitin abgeleitet wurde. Das könnte in Zukunft als Ersatz für Sperrholz und Holzfaserplatten dienen, also für Möbel, Autoteile oder Skateboards genutzt werden.
Einen weiteren Einsatzbereich von Chitosan untersuchen Forschende der Universität Bayreuth. Als dünner Film auf spiegelnde Oberflächen aufgetragen, kann das Material Wärme abstrahlen – und damit künftig Gebäude kühlen, so die Idee. Schon heute werden rund zehn Prozent des weltweiten Stromverbrauchs für den Betrieb von Klimaanlagen aufgewendet, Tendenz stark steigend.
Experimente auf einem Hausdach haben gezeigt, dass die Temperatur eines Spiegels tagsüber um ein bis drei Grad abnahm, wenn er mit Chitosan beschichtet wurde. Die spiegelnde Oberfläche ist nötig, da der Chitosanfilm selbst transparent ist. Die Sonnenstrahlung würde ihn einfach durchdringen und die darunter liegende Oberfläche aufheizen. Anstelle von Aluminium-Glas-Spiegeln könnten Aluminium-Kunststoff-Verbundfolien verwendet werden. Recycelte Chips- Kaffee- oder Saftverpackungen könnten somit als Basis für die passive Kühltechnologie dienen.
Für kreislauffähige Materialien ist die Natur unschlagbar
Sogar Metallobjekte lassen sich mit Chitosan herstellen – und zwar ohne energieintensive Schmelzöfen und Pressen. Forschende der Singapore University of Technology and Design gaben dafür einer wässrigen Chitosan-Lösung verschiedene Metallpartikel bei – Zinn, Kupfer und Edelstahl in unterschiedlichen Anteilen – und gossen diese Mixtur in verschiedene Formen. Das Wasser verdampfte und die Mischung härtete bei Raumtemperatur und Normaldruck langsam zu einem zu 99 Prozent aus Metall bestehenden Verbundstoff aus. Zwar sind die neuen Chitometalle porös und dadurch nicht besonders robust, sie können aber gut Strom leiten. Künftig sei damit eine ressourcenschonende Herstellung von biologisch abbaubaren Batterie-Elektroden oder anderen elektrischen Bauteilen möglich, berichten die Wissenschaftler. Auch könnten sie in andere natürliche Materialien wie Holz oder Zellulose eingebunden werden.
Im Gegensatz zu Materialien, die auf Zellulose basieren, dem Hauptbestandteil pflanzlicher Zellwände, ist Chitin hydrophob. Das heißt, die Substanz nimmt kein Wasser auf und ist dadurch schimmelresistent. Je nach Verarbeitung können Chitin-Verbundwerkstoffe auch weniger entflammbar oder besonders tragfähig gemacht werden.
Als Chitin-Rohstofflieferant kommt unter anderem die industrielle Insektenzucht infrage. Dieser Sektor wächst gerade sowieso, da Insekten in der Futtermittelindustrie immer öfter Soja, Mais oder Fischmehl ergänzen oder als Proteinquelle für Aquakulturen und die Lebensmittelindustrie herangezogen werden.
Chitin wird derzeit nur in geringen Mengen genutzt. Doch das könnte sich ändern. Für kreislauffähige Materialien ist die Natur schließlich unschlagbar.