Die erste Halbzeit war vorbei, ein guter Zeitpunkt für ein paar Veränderungen, fand Christian Wück und folgte seinem Plan. Für seine ersten vier Spiele als Bundestrainer hat sich der 51-Jährige Flexibilität vorgenommen, er möchte viel ausprobieren, viele Fußballerinnen testen und gerade den jüngeren eine Chance geben. Für diese Partie gegen die Schweiz entschied er sich für eine Mischung aus drei verschiedenen Erfahrungsstufen. Eingepackt in eine dicke schwarze Jacke beobachtete Wück, wie sich seine Spielerinnen für ihre Einwechslung bereitmachten: Laura Freigang mit der Routine aus 32 Länderspielen, Cora Zicai mit der Nervosität vor der Premiere und Pia-Sophie Wolter mit der Freude, sich im sechsten Einsatz empfehlen zu können. Es sollte die perfekte Wahl sein.
Fünf Minuten später riss Wück beide Arme in die Luft. Wolter hatte vors Tor geflankt, Freigang nahm den Ball gekonnt direkt und schon stand es 2:0. Sjoeke Nüsken hatte das 1:0 kurz vor der Pause erzielt. In der 56. Minute war es dann Zicai, die in den Strafraum flankte, Lea Schüller lenkte den Ball mit dem Kopf leicht zum 3:0 über die Linie. In der 64. Minute gab Wolter von der Grundlinie den Ball in die Mitte, Freigang verwertete erneut direkt. Zum untrüglichen Beweis taugten jedoch vor allem die Szenen vor dem vierten Tor in der 73. Minute: Wolter spielte in den Lauf von Freigang, die wiederum im Fünfmeterraum Zicai sah. Und welch bessere Geschichte hätte dieser Abend liefern können, als dass die Offensivspielerin vom SC Freiburg an ihrem 20. Geburtstag bei ihrem Debüt nach ihrer Vorlage auch noch selbst traf?
:Sie sollen bitte Fehler machen
Lauter neue Gesichter: In den letzten Länderspielen dieses Jahres verdeutlicht sich der Generationenwechsel beim Fußball-Nationalteam der Frauen. Bundestrainer Christian Wück ist vor allem eines wichtig: dass seine Spielerinnen etwas wagen.
Wie sie das fand, war schon an ihrem Strahlen beim Jubeln abzulesen. Später sagte Zicai: „Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, gleich bei meinem ersten Länderspiel zu treffen. Das war … wow!“ Wücks gutes Gespür für Wechsel zeigte sich auch beim 6:0 von Schüller in der Nachspielzeit: das Tor vorbereitet hatten Lisanne Gräwe und Vivien Endemann, beide waren von der Bank gekommen. Die sechs Änderungen, die Wück vornahm, brachten die Stabilität des Teams nicht durcheinander, im Gegenteil. In der ersten Halbzeit taten sich die Deutschen noch schwer gegen die tiefstehenden, insgesamt aber schwachen und überforderten Schweizerinnen. Mit Freigang, Zicai und Wolter kam eine Dynamik rein, die zu mehr Kreativität und Entschlossenheit in der Offensive führte.
Und so lieferte dieser Abend im Züricher Letzigrund nicht nur die Geschichten von guten personellen Entscheidungen des Trainerteams und neuen Talenten im Rahmen eines Generationenwechsels – Torhüterin Sophia Winkler, 21, und Alara Sehitler, 18, überzeugten bei ihren Debüts nämlich ebenfalls. Sondern auch die Geschichte einer gelungenen Rückkehr von Laura Freigang. Einer Spielerin, die nie richtig weg war und sich doch wieder beweisen muss. Mehr als zwei Jahre hatte die 26-Jährige nicht für die DFB-Frauen getroffen. Vor dem Spiel gegen die Schweiz war ihr das letzte von bis dahin zwölf Toren im September 2022 in der WM-Qualifikation beim 8:0 gegen Bulgarien gelungen, bei einem Dreierpack.
„Ich würde gerne eine größere Rolle spielen“, sagt Laura Freigang
Weder Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg noch Interimscoach Horst Hrubesch hatten so richtig einen Platz für Freigang gefunden. Hrubesch erkannte an, dass sie eine fähige Stürmerin und wichtig fürs Team war. Aber er machte eben ein Manko aus: „Sie schießt zu wenig Tore.“ Freigang war immer dabei, die Zahl ihrer Einsatzminuten aber stockte. Und wenn sie die Chance bekam, wirkte sie in entscheidenden Momenten bisweilen gehemmt. Nach ihrer guten Anfangsphase im Nationalteam stagnierte ihre Entwicklung. „In all den Jahren habe ich immer versucht, ans Limit zu gehen“, sagte Freigang in diesen Tagen und öffnete einen Spalt die Tür in ihr Innenleben: „Ich war nicht mit jeder Entscheidung und Situation glücklich.“
Bei der Europameisterschaft 2022 in England schaffte sie es ebenso wenig in die Stammelf wie bei der Weltmeisterschaft 2023 in Australien. Auch bei den Olympischen Spielen im Sommer prägten andere die Offensive, vor allem die langjährige Kapitänin Alexandra Popp, inzwischen Nationalspielerin im Ruhestand. Dass Freigang in die zweite Reihe gerückt war, hatte aber nicht allein mit der Konkurrenzsituation in der Offensive zu tun, sondern eben auch mit der bevorzugten taktischen Ausrichtung. Hier hat sich etwas getan.
Vor Wück war Freigangs Zehnerposition kaum vorgesehen, das könnte sich nun ändern. Und er ordnet die Frankfurterin am stärksten als Spielmacherin ein. Sie soll wie bei der Eintracht die Bälle in die Zone verteilen, wo in Zukunft meist Schüller lauern wird – und natürlich auch selbst treffen. „Die klassische Zehnerrolle passt am besten zu mir. Ich sehe es sehr positiv, dass Christian mich da sieht“, sagte Freigang. Sieben Monate sind es noch bis zur EM, ihre Zielsetzung ist klar: „Ich würde gerne eine größere Rolle spielen.“
Auch mit Wück als Chef muss Freigang ihre Chancen nutzen, der Franke ist nicht weniger streng was die Auswahl bei der Besetzung seiner begrenzten Kaderplätze angeht. Doch der Druck, liefern zu müssen, blockierte Freigang zumindest gegen die Schweiz nicht mehr. Sie wirkte in ihrem 33. Länderspiel vielmehr befreit davon, vor allem nach ihrem ersten Treffer. In der Bundesliga ist Freigang derzeit die beste Torschützin, für den Tabellenzweiten Frankfurt hat die Kapitänin in zehn Spielen zehnmal getroffen. Dass sie sich nicht schon beim 4:3 gegen England und beim 1:2 gegen Australien zeigen konnte, lag lediglich an einem Infekt. Am Montagabend gegen Italien könnte Freigang ihre nächste Chance bekommen. Dass sie schon richtig ist im Nationalteam, daran hat sie ja nun alle erinnert.