Hans-Joachim Wagner ist an diesem verhangenen Donnerstagvormittag in keiner beneidenswerten Gesprächssituation. Er leitet die Stabsstelle „Ehemaliges Reichsparteitagsgelände/Zeppelintribüne und Zeppelinfeld“ in Nürnberg und ist insofern der erste Ansprechpartner für die Frage: Wie wird das geplante Opernhaus auf dem früheren NS-Areal denn nun ausschauen – wenigstens in etwa? Am 17. Juli 2024 wird der Stadtrat darüber befinden, keine geringfügige Entscheidung in der Geschichte der Stadt Nürnberg. Keine zwei Wochen sind es mehr bis dahin. Und weil der Stadtrat natürlich nur grundsätzlich darüber befinden soll, die Details über den „Interimsbau“ aber vorab geklärt sein müssen, ist das meiste längst geregelt, klar. Am Mittwoch, tags zuvor also, tagte die Jury, man rang sich auch – wie zu hören ist – zu einem sieghaften Entwurf durch. Nur sagen darf Wagner an diesem Vormittag darüber kein Wort.
Was durchaus verständlich ist. Für den Opernbau hat sich die Stadt fürs vergabemäßig besonders verschlungene Konzept „TU“ entschieden. TU steht für Totalunternehmer und ist die Weiterentwicklung des „GU“, des Generalunternehmers. Beides wird von Planern für Großprojekte gerade gerne genommen, weil dann, wie man so sagt, alles so praktisch in einer Hand liegt: Planung, Bauausführung und Gesamtverantwortung. Gerade weil aber alles in nur einer Hand liegt, hat das Prinzip TU beileibe nicht nur Freunde. Über all das aber kann Wagner gerade nicht reden, über TU-Details schon gar nicht, das soll erst am Tag nach besagter Stadtratsentscheidung öffentlich besprochen werden. Vor der wiederum erst noch die Opernhauskommission beratschlagen soll. Und zwar nicht-öffentlich. Vergabeverfahren und Transparenz – das harmonisch zusammenzubringen, wäre wohl was für Zauberkünstler.
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Wagners Zwang zum Schweigen ist also einerseits nachvollziehbar. Andererseits aber auch misslich. Immerhin wird an diesem Freitag die Ausstellung „The Art of Remembrance – Die Kunst des Erinnerns. Die Biennale zu Gast in Nürnberg“ eröffnet, und zwar auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände. Konkreter: Im hufeisenartigen Kongresshallen-Torso, in dessen Innenhof bis 2027 der Opernneubau entstehen soll. Diese Interims-Oper und das ebenfalls geplante Areal für Kunst und Kultur im NS-Altbau – mit Musiktheater-Werkstätten, Platz für Bandproben, fast 50 Atelierräumen –, das soll sich in Nürnberg ergänzen.
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Das bereits fertiggestellte „Segment#1“, wo nun die Ausstellung zu sehen ist, gilt als eine Art Experimentierfeld für diesen künftigen Kunst-Ort. Der zum Teil hallenhohe Hauptausstellungsraum mit angegliederten, für Klaustrophobiker eher ungeeigneten Dunkelecken hieß mal „White Cube“. Das hat man aber verworfen, zu irreführend wirkte der Name. Fast könnte man die Namensänderung als Teil des Konzeptes deuten. Es wird eben experimentiert dort, eine Blaupause für das wohl monsterhafteste aller monsterhaften NS-Relikte gibt es nicht: Was geht noch? Was ist womöglich zu anstößig? Wie reagiert das Publikum?
Einigermaßen klar scheint inzwischen zu sein: mit erheblichem Interesse. Mehr als 10 000 Menschen, sagt Nürnbergs Kulturbürgermeisterin Julia Lehner, haben im ersten Jahr den eher improvisierten Kunstraum besucht, auch wenn dort leichte Kost ganz sicher nicht zu erwarten war. So ist das auch diesmal. Zwar könnte man in den kommenden Tagen (bis 21. Juli) vor dem großen Opern-Entscheid natürlich die Gelegenheit nutzen, das Areal einfach noch einmal besser kennenzulernen. Für pure Flaneure ist die dort gezeigte Kunst aber gänzlich ungeeignet. Man muss schon eintauchen wollen in diese „Kunst des Erinnerns – die Biennale di Venezia zu Gast in Nürnberg“.
Mit Venedig verbindet Nürnberg mindestens zweierlei. Man pflegt eine Städtepartnerschaft – und ist gemeinsam konfrontiert mit einem komplizierten NS-Erbe: In Venedig haben die Nationalsozialisten 1938 den Deutschen Pavillon zum Monumentalbau umgestaltet. In Nürnberg ist nun – auf Fotografien festgehalten – zu sehen, wie etwa die Künstlerin Maria Eichhorn 2022 in der Partnerstadt Venedig die baulichen Strukturen des Pavillons aus einer Zeit freigelegt hat, bevor die Nazis Hand angelegt haben an diesen Repräsentationsbau.
Auch ist dokumentiert, welche Gedanken sich der da bereits schwer erkrankte Christoph Schlingensief über künstlerische Interventionen auf historisch kontaminierten Gelände gemacht hat. In einem längeren Schlingensief-Text fällt eine Passage ins Auge: „Die Aufgabe, den Deutschen Pavillon, einen verdächtigen Repräsentationsbau, nicht für repräsentative Zwecke, sondern für künstlerische Zwecke zu benutzen, ist da genau das Richtige: eine schwere Last, aber Kunst macht leicht, was sonst schwer ist.“
Manches in dieser Ausstellung muss aber auch Kopfgeburt bleiben, mindestens in erster Linie Kopfgeburt. Dass zwei Künstler mit konkretem Bezug zu Nürnberg an der diesjährigen Biennale teilnehmen, ist zwar ehrenhaft – aber die in der Lagune von Venedig präsentierte Soundkunst von Michael Akstaller und Jan St. Werner ohne eine Spur von Sound in erster Linie auf Lautsprecher-Fotos dokumentiert vorzufinden, nötigt Besuchern dann schon ein anspruchsvolleres Maß an Vorstellungskraft ab.
Aber womöglich ist das ja der Punkt, an dem sich dieser Tage ein Kreis schließt beim Besuch auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände: Bislang existiert dort weiter vieles nur in Gedanken. Am 18. Juli, am Tag nach der mutmaßlich in den Abendstunden fallenden Stadtratsentscheidung über die Form des neuen Opernhauses, soll das Kopfkino zumindest deutlich konkreter werden – versprechen Wagner und Lehner.