Table of Contents
Die Bühne war kein Theater, sondern der Presseraum des Olympiastadions in Berlin. Aber offenbar gibt es auch hier Regiehinweise, denen die Hauptdarsteller Folge zu leisten haben. Irgendwo im Skript dieser Pressekonferenz war eine kleine Notiz für Ronald Koeman versteckt, vermutlich hatte der Hauptdarsteller sie selbst hinzugefügt. Jedenfalls erlebte das Publikum der versammelten internationalen Berichterstatter eine Überraschung: Von einer zentralen Figur des Bühnenstücks musste es sich verabschieden, gerade als es versuchte, sie etwas besser kennenzulernen.
Als der Spieler Stefan de Vrij mit einigen Minuten Verspätung zur Pressekonferenz kam, stand der Trainer Koeman umgehend auf, als hätte irgendjemand „Koeman ab, Bühne links“ in das Textbuch geschrieben. Allerdings nicht in alle Ausgaben: de Vrij war von dieser Einlage überrascht, die Uefa-Pressechefin war irritiert, die Journalisten blickten stutzig. Aber Koeman nickte nur einmal kurz: „No, no, he is here“, sagte er, klopfte seinem Innenverteidiger auf die Schulter und ging.

EM-Aus der Türkei
:Der Blick geht selbstbewusst in die Zukunft
Die türkische Nationalelf verbucht trotz EM-Aus in einem politisch aufgeladenen Viertelfinale einen Erfolg: Keine Selbstsabotage, sondern sportliche Sympathien prägten dieses Turnier – und eine fußballerische Prophezeiung macht Hoffnung.
Man konnte Koeman auf diese Weise schon häufiger beobachten während der Europameisterschaft: Für die Niederlande steht im bedeutungsvollen Amt des Bondscoachs an der Seitenlinie ein Mann, der seine eigenen Wege geht, der zur Not eben auch das Skript in seinem Sinne umschreibt. Koeman unterscheidet sich von seinen Kollegen: Er hat nicht die taktische Genialität eines Rinus Michel, er wirbt nicht mit dem Charme eines Bert van Marwijk für sich, er hat weder die Autorität noch den Witz von Louis van Gaal. Koeman ist eine Figur, die man nur schwer durchschauen kann, der wenig dominante Eigenschaften anhaften – außer dem Erfolg.
Zum ersten Mal seit 20 Jahren steht die Elftal nach einem 2:1-Sieg über die Türkei wieder bei einer Europameisterschaft in einem Halbfinale, man könne darauf „wirklich stolz“ sein, sagte Koeman. Er hielt eine Art Kurzreferat vor seinem Abgang, mit Sätzen im Stakkato-Stil, ohne messbare emotionale Ausschläge. Vor allem aber mit einer Botschaft: „Wir sind eine kleine Nation“, sagte er als Eröffnung, ein paar Minuten wiederholte er es zur Verdeutlichung: „Wir sind keine große Nation.“
Diese niederländische Elf wirkt, als wisse sie noch immer nicht so genau, was sie eigentlich sein soll
Geographisch ist Koeman uneingeschränkt recht zu geben. Nur gehörte es auch zur Geschichte seiner Vorgänger in diesem Amt, dass sie die Größe des Landes nicht in Quadratkilometern bemaßen, sondern in schwer zu bestimmenden, fußballhistorischen Parametern. Nach dieser Logik reicht allein die Nennung des Namens Johan Cruyff aus, um die Niederlande zu einer bedeutenden Weltmacht werden zu lassen – weshalb etwa van Gaal sich immer als Trainer einer sehr großen Nation ansah, während seiner Amtszeiten als Bondscoach. Dieser Diktion widersprach Koeman am späten Samstagabend, er schreibt überhaupt die ganze Geschichte um: mit einem Underdog-Mantra, das man zuvor auch der Mannschaft angesehen hatte.

Man wird den Eindruck nicht los, dass auch diese niederländische Elf noch immer nicht so genau weiß, was sie nun eigentlich sein soll. Sie hat das Talent zum leichtfüßigen Turnierfavoriten, vor allem die offensive Dreierreihe aus Xavi Simons, Cody Gakpo und Memphis Depay erfüllt alle Kriterien für den klassischen Oranje-Fußball. Sie ist spielfreudig und intelligent – wenngleich sich bei Depay, 30, mitunter Genie und Wahnsinn zeigen. Zu perfekten Flanken, wie vor dem 1:1 durch de Vrij, ist er fähig; aber auch dazu, unnötig zu verschnörkeln, was sich von ihm aus auf die gesamte Mannschaft überträgt. Dem Talent fehlt dann das Konzept, um zwingend vor das Tor zu kommen. Eine Art Scheinüberlegenheit hat die Niederlande in solchen Phasen, weil sie den Ball kontrolliert, aber zu wenig klare Torchancen entwickelt.
Es fehlt dieser Dreierreihe dann ein Stürmer, den Koeman allerdings fast schon trotzig nie über die gesamte Strecke des Spiels bringen möchte, womöglich, weil auch er – immerhin Europameister unter Michels 1988 – immer erst den klassischen Oranje-Weg versuchen möchte: Wout Weghorst kam gegen die Türkei zur zweiten Halbzeit, er war der entscheidende Faktor, der dazu beitrug, die Partie nach dem 0:1 -Rückstand zu drehen. Auch deshalb, weil sich mit ihm das Spiel verändert: Weghorst ist kein Spieler im Sinne der Tradition seines Landes, er ist die pragmatische Lösung, die Entscheidung für das Dasein als Underdog. Mit Weghorst gab sich die Mannschaft der Niederlande dem wilden Spiel hin, das sie nicht kontrollieren, aber gewinnen kann.
Das Team wäre fähig zur Dominanz, entscheidet sich aber für den Kampf
„Sie nennen es unniederländisch, aber wir tun unser Bestes, um es niederländisch zu machen“, sagte Weghorst dazu nach dem Spiel: „Wir haben uns immer wieder darauf gestürzt und alles getan, was wir konnten, um den Sieg zu erringen.“ Diese wilde Energie, die auch den Türken innewohnt, spiegelten die Niederländer überaus erfolgreich. Es waren mutige Verteidigungsaktionen des Verteidigers Micky van de Ven und des jungen Torwarts Bart Verbruggen, die den Ausgleich der Türkei verhinderten, de Vrij sprach später von einer „Schlacht“.
Diese Diskrepanz eines Teams, das fähig wäre zur Dominanz und sich doch für die Schlacht entscheidet, begleitet die Niederlande durch das Turnier. In der Gruppenphase gewannen sie die Partie gegen Polen dank des Stürmerinstinkts von Weghorst. Gegen Frankreich führte die Spiegelung des abwartenden Deschamps-Stils zu einem 0:0. Gegen Österreich ging die Schlacht verloren, gegen Rumänien reichte allein die Qualität zu einem Sieg im Achtelfinale.
Man hätte Ronald Koeman gern gefragt, zu welchem Plan er nun tendiert im Halbfinale gegen England: Ob etwa Weghorst mit seiner Dominanz im Strafraum nicht einmal von Anfang an die Formation anführen sollte. Allerdings: Der Bondscoach war schon weg, er folgt nun einmal seinem eigenen Skript.