Als die letzte Sitzung des 20. Bundestags in der vergangenen Woche vorbei war, ging Gregor Gysi zielstrebig auf das Pult zu, an dem eben noch die scheidende Bundestagspräsidentin Bärbel Bas gesessen hatte. Er setzte sich auf den Stuhl hinter dem Pult, er schaute auf das Mikrofon vor ihm, er schaute in den sich leerenden Plenarsaal, er lachte, er hatte sichtlich gute Laune. Gysi hatte in diesem Moment, wenn man so will, schon einmal ein bisschen geübt.
An diesem Dienstag wird er nämlich an genau diesem Pult als Alterspräsident den 21. Bundestag eröffnen. Zwar ist er nicht der älteste Abgeordnete, er ist jedoch der dienstälteste. Bis 2017 war es üblich, dass das älteste Mitglied die Eröffnungsrede hält, seitdem fällt diese Aufgabe dem Mitglied zu, das die meisten Jahre im Parlament vorweisen kann. Hätte es diese Änderung nicht gegeben, würde an diesem Dienstag anstelle des 77 Jahre alten Linken-Politikers Gregor Gysi der 84 Jahre alte AfD-Politiker Alexander Gauland sprechen.
Der Alterspräsident darf so lange sprechen, wie er will
Wie sehr sich Gysi auf diese Rede freut, hat er bereits im Wahlkampf immer wieder gesagt. Nie kam er dabei ohne den Hinweis aus, dass es für die Rede des Alterspräsidenten oder der Alterspräsidentin keine Zeitbeschränkung gebe. Man konnte dann gar nicht anders, als sich vorzustellen, wie Gysi die Abgeordneten mit einer Rede von Fidel-Castro-hafter Monumentalität traktiert oder erfreut, je nachdem, er ist ja zweifellos einer der begabtesten Rhetoriker des politischen Betriebs in Deutschland. Wie er also vier oder fünf Stunden lang spricht, einen Schluck Wasser nimmt, ins Halbrund lächelt und sagt: „So, das erste Drittel hätten wir geschafft.“
Mittlerweile hat Gysi durchblicken lassen, dass er ganz so lange nun doch nicht sprechen wird. Es wird wohl auf eine gute halbe Stunde hinauslaufen. Inhaltlich könnte es nicht nur wegen der aktuell so stürmischen Zeiten interessant werden, sondern auch, weil Gysi als früherer Bürger der DDR vermutlich einige Gedanken zum Stand der Wiedervereinigung äußern dürfte. Als Mitglied der Volkskammer der DDR hatte Gysi übrigens gegen die Wiedervereinigung zum 3. Oktober 1990 gestimmt. Nun eröffnet er das Parlament dieses vereinigten Deutschlands.
Einige Monate lang hatte er im Berliner Senat ein Regierungsamt
Seit 1990 sitzt Gysi im Bundestag, allerdings mit einer Unterbrechung Anfang der 2000er-Jahre, in der er unter anderem einige Monate lang als Berliner Wirtschaftssenator im Kabinett des damaligen Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit arbeitete. Es war das einzige Mal in seiner langen politischen Laufbahn, dass er ein Regierungsamt innehatte. Im Jahr 2005 zog er dann wieder in den Bundestag ein, dem er seither ohne Unterbrechung angehört.
Ursprünglich hatte Gysi im vergangenen Jahr einen Rückzug aus dem politischen Tagesgeschäft zumindest erwogen, aber als die Partei Die Linke nach der Abspaltung des BSW vor gut einem Jahr zunächst drohte im Nichts zu verschwinden, entschloss er sich dazu, noch einmal anzutreten. Ergebnis: Die Linke zieht an diesem Dienstag mit 64 Sitzen in den Bundestag ein, und Gregor Gysi hält die vielleicht bedeutsamste Rede seiner Karriere.