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Wo ist sie geblieben: die deutsche „Willkommenskultur“? Am Anfang von Klaus Neumanns Buch über die deutsche Asylpolitik steht eine sehr persönliche Beobachtung: Viele Jahre hatte der Historiker in Australien gearbeitet und die dortige sehr restriktive Migrationspolitik untersucht. 2018 kam er zurück nach Deutschland und fand ein „offenes und entspanntes Land“ vor, das die Aufnahme von mehr als einer Million Schutzsuchender deutlich besser hinbekommen hatte als erwartet – und das keineswegs unter den Belastungen zugrunde gegangen war. Doch woran lag das und wie hat sich das Land seitdem verändert?
„Blumen und Brandsätze“ erzählt die Geschichte des deutschen Umgangs mit Geflüchteten – und das von den Jahren der Vereinigung bis in unsere unmittelbare Gegenwart, in der die Ampelregierung die verschärften EU-Asylgesetze, die Einrichtung von Lagern an Europas Außengrenzen unter haftähnlichen Bedingungen als Sieg der politischen Vernunft feiert. Dabei geht es – und das macht den Zugang besonders – nicht noch einmal um parlamentarische Debatten, gesetzgeberische Verfahren oder die Haltung einzelner politischer Parteien. Neumanns Blick richtet sich auf die Kommunen, auf lokale Entscheidungsträger, auf die Vielfalt zivilgesellschaftlicher Initiativen, die oft als unmittelbare Reaktion auf die offen rassistische Gewalt in Ost- und in Westdeutschland entstanden.
Der Fokus liegt auf zwei sehr unterschiedlichen Orten
Und er wählt dafür einen ungewöhnlichen Zugriff, indem er zwei Fallbeispiele auswählt, die, wie er das formuliert, „an den beiden extremen Enden eines imaginären Spektrums angesiedelt“ seien: Hamburg-Altona, lange der Bundestagsstimmkreis von Olaf Scholz, und den Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, der 2017 an Frauke Petry gegangen war und 2021 an den AfD-Mann Steffen Janich. Auf der einen Seite also, so könnte man meinen, das vermeintlich links-liberale Hamburg, auf der anderen Seite die sächsische Provinz, in der es wie 2015 in Heidenau immer wieder zu massiver Gewalt gegen Flüchtlinge gekommen war – und kommt. Aber Neumann hält sich mit solchen vordergründigen Zuschreibungen zurück. Denn es wird rasch deutlich, dass die Erfahrungsgeschichten komplizierter sind.
So erinnert er daran, wie sich beispielsweise auch in wohlsituierten Hamburger Stadtteilen in den frühen 1990er-Jahren Bürgerinitiativen gegen Flüchtlingsunterkünfte formierten – nicht mit Brandsätzen, eher mit „gediegener Bürgerlichkeit“, wie ein Medienvertreter über eine der Gründungsversammlungen festhielt, wo „elf Personen mit untadeliger Ausstrahlung“ den Protest anführten. Man wolle vor allem verhindern, dass eine solche Unterkunft in der Nähe des Gymnasiums entstehe und auf diese Weise am Ende „das Leben unserer Kinder“ gefährde. Neumann hat sich die Mühe gemacht, nicht nur mit etlichen Beteiligten, gerade auch in Pirna und Umgebung, zu sprechen, sondern auch intensiv die lokalen Akten auszuwerten. Deutlich wird dabei, dass die Kommunen keineswegs nur Getriebene oder gar „Opfer der Verhältnisse“ waren, sondern sich ein beträchtlicher Handlungs- und Gestaltungsspielraum eröffnete, der von den kommunalen Entscheidungsträgern immer wieder sehr unterschiedlich genutzt wurde – ein Befund, der auch für die augenblickliche Debatte von einiger Bedeutung ist.
Aufbauschen oder verstecken?
Es gab jene Fälle, wo Vertreter von Gemeinden die vermeintliche Gefahr einer Asylbewerberunterkunft so sehr aufbauschten, dass ihnen die öffentliche Skandalisierung gerade recht kam, um deren Einrichtung in ihrem Landkreis zu verhindern. Oder dafür sorgten, dass Unterkünfte mitten in den Wald oder in Industriebrachen verbannt wurden, damit das „Problem“ möglichst unsichtbar blieb. Neumann schildert ausführlich die immer wieder von Neuem erschütternden Berichte der Opfer rassistischer Gewalt, etwa von Selda Sendilmen aus dem Januar 2002, die sich in ihrer Not an die Berliner Ausländerbeauftragte wandte. Sie arbeite von morgens früh bis abends spät, und wenn sie heimkomme, dann schaue sie bis 23.00 Uhr, „ob Neo-Nazis kommen“. In die Türkei könnten sie nicht mehr fahren, denn sobald sie weg seien, würden Nazis ihren Laden zerstören. Seit zwei Jahren schlafe sie mit Straßenschuhen – immer in der Angst, die Familie retten zu müssen.

Die stillen „Helden“ dieses Buches sind die – gar nicht so wenigen – kommunalen Vertreter, die sich, auch in Ostsachsen, immer wieder darum bemühten, nach pragmatischen Lösungen für Geflüchtete zu suchen, die um Akzeptanz und Verständnis warben und dafür auch immer wieder öffentlich angefeindet wurden. Insofern öffnet das Buch einen lesenswerten Einblick in die Vielfalt oft ehrenamtlichen politischen Handelns, wozu auch gehörte, in einem schwierigen politischen Umfeld über gemeinsame Resolutionen gegen rechte Gewalt einen Konsens der Demokraten herzustellen oder dafür zu sorgen, dass Geflüchtete nicht über Essenspakte versorgt und dezentral untergebracht werden.
Die Zivilgesellschaft rückt in den Blick
Die Unterstützung Geflüchteter, auch das wird deutlich, ist keine theoretische Frage, sondern sehr konkret: Es geht um die Ausstattung der Unterkünfte, um einen fehlenden Sichtschutz zwischen Duschräumen und Küche, um hygienische Mindeststandards, angemessene Sanitäranlagen, Spielzeug für Kinder, Transporte zur Unterkunft, vernünftige Verpflegung. Auch die viel beschworene Zivilgesellschaft hat eine Geschichte, und es ist ein Verdienst dieses Buches, gerade auch diesen Gruppen einen angemessenen Platz einzuräumen, Gruppen wie der „Aktion Zivilcourage“ oder dem Alternativen Kultur- und Bildungszentrum. Deren Arbeit ist oft geprägt durch die Erfahrung rechtsextremer Übergriffe und den folgerichtigen Versuch, eigenständige, autonome Räume zu schaffen, in denen man sich austauschen und einigermaßen sicher fühlen konnte.

Insofern erzählt das Buch auch eine – bislang zu selten in die Geschichte von Flucht und Migration einbezogene – Demokratiegeschichte von unten; eine Geschichte, die sich nicht in Begriffen wie „Erfolg“ oder „Misserfolg“ erschöpft, sondern auf die hitzigen Anerkennungskämpfe verweist, die das vereinigte Deutschland nach 1989 begleiteten und die von offener Gewalt gegen Geflüchtete ebenso geprägt war wie von dem Versuch, alte, völkische Vorstellungen von Zugehörigkeit und Bürgerschaft neu zu definieren. Mit guten Gründen argumentiert Neumann gegen eine allzu selbstgerechte westdeutsche Sicht, die rassistische Gewalt primär als ostdeutsches Problem externalisiert und den „rückständigen Osten“ als Projektionsfläche eigener Apologie gebraucht.
Die Befunde werden nicht systematisiert
Gerade deswegen ist es so schade, dass sich manche der klugen Beobachtungen in der Vielzahl an Einzelbeispielen verlieren und Neumann zu wenig über die analytischen Probleme seiner parallelen deutsch-deutschen Geschichte nachdenkt. Den Lesenden macht er es damit wahrlich nicht leicht. Und viel zu selten bemüht er sich darum, den Blick zu weiten, seine Befunde zu systematisieren oder den biografischen Lebensverläufen genauer zu folgen. Womöglich wären dann noch deutlicher die erfahrungsgeschichtlichen Brüche und Kontinuitäten von Gewalt und demokratischer Teilhabe zwischen Vereinigungskrise, „Willkommenskultur“ und unserer Gegenwart hervorgetreten. Hier bleibt die Darstellung hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Neumanns Appell bleibt gleichwohl und trotz der aufgeregten aktuellen Debatten nach Mannheim und Solingen richtig: Die Vergegenwärtigung dieser verschütteten Geschichten könnte helfen, über eine Zukunft nachzudenken, in der einem beim Thema Migration nicht immer und zuallererst das Wort „Krise“ in den Sinn kommt.
Dietmar Süß lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg.