Table of Contents
Wer im ukrainischen Sumy, nur 25 Kilometer von der Grenze zu Russland, zu Gast ist, kann sich auf eines verlassen: Der Strom wird pünktlich zur angekündigten vollen Stunde ab- oder wieder angestellt. Je nach Stadtviertel gibt es zwei Stunden Strom, zwei Stunden wird er abgestellt, damit der verfügbare Strom für die Stadt reicht. Das Abschaltprogramm gibt es so oder ähnlich auch in anderen Regionen einschließlich der Hauptstadt Kiew – und ist nur ein Vorgeschmack dessen, was der Ukraine im Winter bevorstehen dürfte.
Einen Tag, bevor am Freitag EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Kiew kam und einen Kredit von bis zu 35 Milliarden Euro ankündigte, flog Russland neue Angriffe auf die Strominfrastruktur etwa von Sumy. Dank vergleichsweise milder Temperaturen hat die Ukraine die ersten beiden Kriegswinter recht glimpflich überstanden. Der dritte Winter aber werde „mit weitem Abstand der bisher härteste Test für die Ukraine“, sagte der Chef der Internationalen Energieagentur (IEA), Fatih Birol.
Die Ukraine war ein Energie-Exportland – das änderte sich bereits im Februar 2022
Dabei war die Ukraine eine Energiegroßmacht: Bis zum russischen Großüberfall vom 24. Februar 2022 hatten die Atom-, Heiz- oder Wasserkraftwerke insgesamt 44 Gigawatt installierte Leistung – weit mehr, als das Land selbst in energiehungrigen Wintern mit höchstens 26 Gigawatt verbrauchte. Den Überschuss exportierte die Ukraine in europäische Länder.
Die russische Invasion war für die ukrainische Stromversorgung schon eine Katastrophe, bevor Moskau ein halbes Jahr nach seinem Überfall im Oktober 2022 begann, die ukrainischen Elektrizitätswerke oder Trafostationen zu bombardieren. Moskau übernahm die Kontrolle über etliche Elektrizitätswerke in den besetzten Gebieten. Allein das AKW Saporischschja, das größte Atomkraftwerk Europas, deckte zuvor ein Fünftel des ukrainischen Energiebedarfs. Insgesamt verlor die Ukraine durch die russische Besatzung rund 18 Gigawatt Stromkapazität. Das ist so viel, wie die noch unter Kontrolle Kiews stehende Ukraine nun zu Spitzenzeiten im Winter benötigt.
Schon im ersten Kriegswinter blieb ein ukrainischer Durchschnittshaushalt allein zwischen dem 10. Oktober und dem Silvestertag 2022 fünf Wochen ohne Strom, so die Vereinten Nationen (UN) in einem gerade erschienenen Bericht. Allein in diesem ersten Kriegswinter flogen die Russen in praktisch der gesamten Ukraine 13 Angriffswellen mit jeweils Dutzenden Raketen, Marschflugkörpern oder bombenbestückten Drohnen. Schon diese Angriffe wurden von einer unabhängigen UN-Untersuchungskommission als Kriegsverbrechen und als mutmaßliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft.
Im zweiten Kriegswinter 2023/24 konnten die Ukrainer gerade noch 17,8 Gigawatt Strom in die Netze schicken. Schon dies reichte knapp nicht mehr, um den höchsten Energiebedarf von 18,5 Gigawatt zu decken. Das Defizit deckten Stromimporte aus Moldawien und Rumänien, der Slowakei, Ungarn und Polen.
„Kein Platz, keine Region, kein Typ von Energieinfrastruktur“ bleibe unversehrt
Doch am 22. März 2024 begannen die nächsten massiven Angriffswellen: Neun Großangriffe zählten die Vereinten Nationen allein bis Ende August. Am 26. August etwa bombardierte Moskau ukrainische Energieziele mit 236 Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen, so Energieminister Herman Halushchenko. Insgesamt zählte der Minister seit Herbst 2022 schon 1024 russische Angriffe auf die Strominfrastruktur. „Kein Platz, keine Region, kein Typ von Energieinfrastruktur“ sei unversehrt geblieben.
Seit März 2024 habe die Ukraine noch einmal über neun Gigawatt Stromkapazität verloren: So sind über vier Fünftel aller Heizkraftwerke zerstört und mindestens ein Drittel der Kapazität der Wasserkraftwerke. Nur die bestehenden Atomkraftwerke Chmelnitzkij, Rivne, Südukraine und Tschernobyl wurden bisher nicht angegriffen.
Doch selbst mit Atomkraft kommt die Ukraine nur noch auf rund neun Gigawatt Strom. Das war schon im ausgehenden heißen Sommer mit bis zu 40 Grad im Schatten nicht genug, um den Energiebedarf von zwölf Gigawatt in Spitzenzeiten zu befriedigen. Und deshalb wurde vielen Ukrainern schon im Sommer oft der Strom abgeschaltet. Die wohl einzige Ausnahme: das Zentrum Kiews mit seinen Regierungsbehörden.
Mittlerweile sind in der Ukraine wieder einige im Sommer überholte Blöcke von Atomkraftwerken ans Netz gegangen, zudem kann das Land im Winter auf die Stromeinfuhr von bisher höchstmöglichen 1,7 Gigawatt aus Europa setzen. Ursula von der Leyen kündigte an, die EU werde die Kapazität für den Stromexport in die Ukraine leicht erhöhen und der Ukraine zusätzlich helfen, 2,5 Gigawatt Stromkapazität zu reparieren. So werde in Litauen gerade ein komplettes Heizkraftwerk abgebaut und in Einzelteilen in die Ukraine geschickt.
Fachleute rechnen mit großflächigen Abschaltungen
Auch ansonsten mangelt es nicht an Vorschlägen, um die Stromnot zu mindern: vom erhöhten Gasimport und der Verteilung kleinerer Gasturbinen und dezentralisierte kleine Stromproduktion über das Vorhalten von mehr Ersatzteilen. Viele dieser Vorschläge aber sind kaum und erst recht nicht schnell umzusetzen. Das Forschungsinstitut GFK überschlug, die Ukraine könne bis zum Beginn der Heizsaison nur rund drei Gigawatt Kapazität reparieren.
Doch selbst so verbleibe in Momenten mit dem höchsten Strombedarf ein Mangel von bis zu sechs Gigawatt – so viel wie ganz Dänemark in Spitzenzeiten benötigt, berichtet die IEA in einer Studie. Fachleute rechnen deshalb mit großflächigen Abschaltungen – und dabei sind weitere russische Angriffe nicht einmal eingerechnet. Offiziellen Angaben zufolge wurden einige Energieanlagen bis zu 40 Mal von den Russen angegriffen. Laut GFK verhandelt die Stadt Odessa seit geraumer Zeit mit der Türkei über auf Schiffen angebrachte Kleinkraftwerke, die im Hafen stationiert werden sollen – doch die Frage ihres Schutzes vor russischen Raketen ist ungeklärt.
Weitere Luftabwehrsysteme seien nötig, mahnte das Militärforschungsinsitiut RUSI kürzlich. Doch die sind kaum in Sicht. Neben dem US-System Patriot kann nur das französisch-italienische SAMP/T-System russische Raketen und Marschflugkörper abschießen. Doch bisher hat die Ukraine nur ein SAMP/T-System. Das zweite soll nach monatelanger Verzögerung bis Ende September eintreffen, versprach Italiens Verteidigungsminister Guido Crosetto.