Was sichert eigentlich die freiheitliche und demokratische Gesellschaft? Ist es die Verfassung, in der unser aller Rechte verbürgt sind? Oder ist es die politische Praxis, die jeden Tag Demokratie betreibt? „Beides“, würden vermutlich die meisten antworten, trotzdem hat der 75. Geburtstag des Bundestages weit weniger Aufmerksamkeit bekommen als der des Grundgesetzes. Die Praxis hat in Deutschland keinen guten Ruf, doch der Historiker Michael F. Feldkamp wendet ein: „Eine Verfassung macht noch keinen Staat!“ Daher ist es nur folgerichtig, dass der ausgewiesene Parlamentskenner mit „Die Institution“ eine Geschichte des Bundestages vorlegt, also des Ortes, der das Grundgesetz mit Leben füllt. Bedauerlicherweise ist das selbst eine recht leblose Angelegenheit.
Dass dieses Buch nicht atmen kann, liegt vor allem daran, dass der Autor das Korsett sehr eng schnürt. Kapitel für Kapitel beschreibt er die einzelnen Wahlperioden, gibt an, wer zum Fraktionsvorsitzenden gewählt wird oder zählt wichtige Gesetzesvorhaben auf. Den Schwerpunkt legt er auf die ersten Perioden, was einleuchtet: Schließlich waren sie es, in denen das Fundament des Staates gelegt wurde, wie er heute existiert. Zwischen „Tradition und Moderne“ sieht Feldkamp diesen ersten Bundestag, in dem 29 Abgeordnete saßen, die bereits im Reichstag der Weimarer Republik vertreten waren. Der erste Alterspräsident des Parlaments, Paul Löbe, bildete in persona die Verbindung zur deutschen Demokratiegeschichte. „Tradition“ heißt im Falle des ersten Bundestags jedoch auch, so der Autor, dass 57 Abgeordnete frühere Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen waren.
Coca-Cola im Parlamentsrestaurant
Erhellend bemerkt er, dass das politische System der Bundesrepublik einen neuen Dualismus hervorbringt: Während die Weimarer Republik noch stark vom Konflikt zwischen Exekutive und Legislative geprägt war, zog der Streit in der BRD ins Parlament ein. Regierungsfraktionen und Opposition sind nun die entscheidenden politischen Kräfte. Es sind solche Spuren, die der Autor legt, dann aber nicht weiterverfolgt. Stattdessen versteht sich das Buch als eine Chronik der Parlamentspraxis. Das bedeutet: Debatten, Geschäftsordnungen, Abstimmungsverfahren, Verwaltung. Sogar über die Zugriffszahlen des Online-Auftrittes des Bundestags rapportiert der Historiker.
Zwischendurch nimmt sich Feldkamp Zeit für Arabesken der westdeutschen Parlamentsgeschichte. So lernt der Leser, dass im Organisationsausschuss der ersten Wahlperiode die Frage diskutiert wurde, ob das Abendland enden würde, wenn im Bundestagsrestaurant außer deutschem Bier auch Coca-Cola auf die Speisekarte käme. Ebenso erfährt man, dass Kostenexplosionen bei öffentlichen Bauvorhaben keineswegs ein Phänomen der Gegenwart sind: 1969 wurde das neue Abgeordnetenhochhaus, der „Lange Eugen“, eröffnet. Die Baukosten waren mit zwölf Millionen Mark berechnet, gebraucht wurden schließlich 48,5 Millionen.
Thierse oder Lammert? Der Autor hat eine Präferenz
Neben den Wahlperioden leiten die aufeinanderfolgenden Amtszeiten der Bundestagspräsidenten den Autor durch den Text. In Eugen Gerstenmaier, so Feldkamp, fand das Parlament seinen ersten Präsidenten, der das Amt mit intellektueller und charismatischer Strahlkraft ausfüllte. Seine Mitgliedschaft im Kreisauer Kreis verlieh ihm zudem die nötige biografische Überzeugungskraft. Über die erste Frau im Amt, Annemarie Renger, den „schwarzen Ehrenmann“ Richard Stücklen bis hin zu Norbert Lammert, Wolfgang Schäuble und Bärbel Bas verfolgt er das Wirken der Bundestagspräsidenten ganz besonders eng und kann nicht verhehlen, dass ihm die Amtsführung Norbert Lammerts deutlich sympathischer ist als die Widerborstigkeit eines Wolfgang Thierse. Diese Art der diskreten, politischen Parteinahme zieht sich durch den ganzen Text und irritiert in der sonst so zurückgenommenen Form der Chronik. Diskretion bedeutet bei Feldkamp auch, nicht selbst zu kommentieren, sondern „die Medien“ vorzuschieben, ohne dass klar wird, auf welche er sich bezieht.
Auch wenn die Parlamentsarbeit im Vergleich zu Weimar eine deutliche Aufwertung erfahren haben sollte, ein strukturelles Problem bleibt auch in der bundesrepublikanischen Demokratie bestehen: Zu oft ist das Parlament nicht Initiativakteur, sondern reagiert auf das, was aus der Regierungsarbeit abgeleitet wird. „Die Institution“ verdoppelt dieses strukturelle Problem, indem es von der Wiederbewaffnung, über den Nato-Doppelbeschluss bis hin zu den Hartz-IV-Gesetzen vor allem Regierungsvorhaben vorstellt.
Viel zu selten wird deutlich, was aus genuiner Parlamentsarbeit entsteht. Unfreiwillig wird Feldkamps Buch damit zu einer realistischen Darstellung des bundesdeutschen Parlamentarismus, der oft unter seinen Möglichkeiten bleibt und sich damit begnügt, gesellschaftliche Diskussionen abzubilden, anstatt sie aktiv zu gestalten.
Gerrit ter Horst ist Literaturwissenschaftler und Historiker. Die letzten Jahre hat er für verschiedene Verlage gearbeitet, mit dem Schwerpunkt Sachbuch. Er lebt in Berlin und ist freier Autor.