Die Handschellen sind ihm gerade abgenommen worden, da werden sie ihm schon wieder angelegt: Der Prozess gegen einen 29 Jahre alten Eritreer – beigefarbener Hoodie, Ohrhörer für die Übersetzung auf dem Kopf – hat kaum begonnen, da gibt es bereits eine längere Unterbrechung. Die Verteidigung macht Probleme mit dem Dolmetscher geltend, das Gericht bestellt daraufhin einen neuen.
In der Zwischenzeit wird der Angeklagte, der als einer der mutmaßlichen Anstifter der aufsehenerregenden Krawalle bei einem Eritrea-Festival in Stuttgart im September 2023 nun vor Gericht steht, wieder in Handschellen aus dem Saal 1 des Oberlandesgerichts Stuttgart in Stammheim geführt. Das zuständige Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt hat die Verhandlung in Baden-Württembergs sichersten Gerichtssaal verlegt.
Die Dolmetscher-Episode ist ein Stück weit symbolisch für diesen Prozess, in dem das Amtsgericht mithilfe des Strafrechts einen Fall aufarbeiten muss, der zwar in Stuttgart spielt, seinen Ursprung aber in Eritrea hat, wo das Regime und seine Gegner zwar die gleiche Sprache sprechen, sich aber nicht verstehen. Sondern blutig bekämpfen.
Am Ende waren zehn Polizeibeamte dienstunfähig
Gut fünf Monate ist es her, dass Hunderte Eritreer eine Veranstaltung im Stuttgarter Römerkastell stürmen wollten. Der Organisator des Treffens, der Verband eritreischer Vereine, gilt als Unterstützer des Regimes in Eritrea. Die Angreifer hingegen waren Regimegegner. Als sie vor dem Römerkastell auf die Polizisten trafen, die das Treffen sicherten, warfen sie Steine und prügelten mit Holzlatten auf die Beamten ein. Dutzende Menschen wurden verletzt. Am Ende der Eskalation mussten sich zehn Polizeibeamte dienstunfähig melden. Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) sprach von einem «Gewaltrausch» – und dass es vermutlich Tote gegeben hätte, wenn sich die Polizisten nicht zwischen die Angreifer und die Teilnehmer der Veranstaltung gestellt hätten.
An der Eskalation soll der Angeklagte einen wesentlichen Anteil haben. Als der neue Dolmetscher eintrifft und die Verhandlung fortgesetzt wird, verliest die Staatsanwaltschaft die Anklage: Sie hält dem 29-Jährigen einen besonders schweren Fall des Landfriedensbruchs vor, tätlichen Angriff und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Er soll den Betonfuß eines Bauzauns auf Polizisten geworfen und damit eine Straßenschlacht ausgelöst haben.
Einen Eindruck von jenem Nachmittag im Römerkastell bietet ein knapp achtminütiger Videozusammenschnitt der eigens eingesetzten Ermittlungsgruppe Asmara, der als Beweismittel abgespielt wird. Zu sehen ist, wie mit Lattenzäunen bewaffnete Männer Polizisten angreifen, Stühle werfen, Steine. Und Polizisten auf der Flucht. Später dann, wie die Polizei versucht, mit Schlagstöcken die Situation in den Griff zu bekommen. Es ist ein Zusammenschnitt aus über 120 Stunden Material, ein Mix aus Privataufnahmen, Bodycam-, Drohnen- und Hubschrauberaufnahmen. Auf den Videosequenzen sei auch der Angeklagte zu sehen, sagt der Polizist, der das Material zusammengestellt hat und als «Super-Recognizer» gilt, als jemand, der Gesichter besonders gut wiedererkennt.
In Eritrea herrscht ein Diktator – und in der Diaspora entladen sich Spannungen
Die Ausschreitungen riefen damals bundesweit Aufregung hervor. Denn Stuttgart war kein Einzelfall. Auch bei anderen Eritrea-Festivals hatte es blutige Konflikte gegeben: in Stockholm, in Tel Aviv, in Toronto, aber auch im hessischen Gießen. Es entluden sich Spannungen innerhalb der eritreischen Diaspora. Das Regime des Diktators Isaias Afewerki zählt zu den repressivsten der Welt, manche sprechen vom «Nordkorea Afrikas». Viele Eritreer haben das Land verlassen, allerdings nicht nur Regimegegner, sondern auch Unterstützer. Deshalb geht es seit den Auseinandersetzungen auch um die Frage, wie es sein kann, dass Konflikte in Eritrea auf deutschen Straßen eskalieren.
Ein junger Polizist schildert im Zeugenstand, wie sie zu Beginn mit zehn Mann versucht hätten, die Halle zu sichern; wie auf einmal Steine geflogen seien, Lattenzäune, sie sich schließlich versteckt hätten. «Gefühlt war es ein Selbstmordkommando, die Stellung halten zu wollen.» Was er erzählt, klingt wie ein Katz-und-Maus-Spiel. Mit der Polizei als Maus. Ihre Gegenüber hätten sich beschwert, dass sie Anhänger einer Diktatur schützen würden. Einer habe zu einer Kollegin gesagt: Wenn ihr das macht, müsst ihr sterben. «Ich habe mich gefühlt, als wäre ich im Krieg», hatte der Polizist nach dem Einsatz in einer dienstlichen Äußerung vermerkt. Ob das so gewesen sei, fragt ihn die Richterin. Der junge Mann kämpft mit den Tränen, nickt.
Mit dem Prozess beginnt nun die juristische Aufarbeitung des Stuttgarter Vorfalls. Es ist der erste Prozess gegen einen der Beteiligten, es wird nicht der letzte bleiben.
Erhellendes will der Angeklagte zu Beginn nicht beisteuern. Er bestätigt lediglich persönliche Daten, geboren 1994 in Eritrea, wohnhaft im Alb-Donau-Kreis, eritreischer Staatsbürger, seit dem 15. Januar 2024 in Untersuchungshaft. Selbst lässt er sich weder zu Persönlichem noch zur Sache ein.