Als Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zum letzten Mal zu Besuch war in Berlin, da traf er im März 2023 Bundeskanzler Olaf Scholz zu einem Gedankenaustausch. Ein Treffen, das sich womöglich nicht wiederholen wird. Sollte Netanjahu planen, noch einmal nach Berlin zu kommen, dann wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er bereits am Flughafen verhaftet wird. Seit Donnerstagnachmittag gelten für Israels Regierungschef und den ehemaligen Verteidigungsminister Joav Gallant Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag – die für Deutschland und 123 weitere Mitgliedsstaaten rechtlich bindend sind. Israel selbst erkennt den Strafgerichtshof nicht an.
Das Gericht folgte am Donnerstag in vielen Punkten Chefankläger Karim Khan, der die Haftbefehle im Mai beantragt hatte. Ihr genauer Wortlaut bleibt geheim, das Gericht teilte aber mit, Netanjahu und Gallant stünden im Verdacht, das Kriegsverbrechen des Aushungerns als Mittel der Kriegsführung begangen zu haben – außerdem Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Kammer stellte fest, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass der Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Elektrizität und Treibstoff sowie an bestimmten medizinischen Hilfsgütern in Gaza Lebensbedingungen schuf, die darauf ausgerichtet waren, einen Teil der Zivilbevölkerung zu vernichten. Dafür sei Israel verantwortlich, das nach dem Terror der Hamas vom 7. Oktober mit 1200 Toten einen Krieg gegen die Hamas und den Gazastreifen begann, dem bis heute nach palästinensischen Angaben etwa 43 000 Menschen zum Opfer fielen. Deutschland, die USA und viele andere Staaten hatten Israel seit einem Jahr immer wieder dazu aufgefordert, mehr Hilfe für den Gazastreifen zuzulassen. Die USA hatten vor wenigen Tagen eingestanden, dass Israel ein 30-Tage-Ultimatum für mehr Hilfsgüter nach Gaza nicht eingehalten habe.
Laut Israel ist Mohammed Deif tot
Chefankläger Khan hatte im Mai auch Haftbefehle gegen drei Hamas-Führer beantragt: den obersten Hamas-Führer in Gaza, Jahia Sinwar, den politischen Führer Ismail Hanija und den Militärchef Mohammed Deif. Wegen Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wegen der Tötung von Zivilisten und der Entführung von Geiseln während des Angriffs im Oktober 2023, sowie der Misshandlung von Geiseln und sexualisierter Gewalt gegen sie während ihrer Gefangenschaft in Gaza. Sinwar und Hanija wurden seitdem von Israel getötet, das angibt, auch Deif getroffen zu haben, was das Gericht nicht mit Sicherheit bestätigen konnte, weshalb es für ihn auch einen Haftbefehl ausstellte.
Israels Regierung reagierte empört auf die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant: „Wir werden beschuldigt, die Bevölkerung hungern zu lassen“, sagte Regierungschef Netanjahu in einer Videoansprache. Israel habe während des Kriegs „Hunderttausende Tonnen Lebensmittel“ in den Gazastreifen gebracht, verteidigte er sich. Außenminister Gideon Sa’ar sagte: „Anständige Länder und jeder anständige Mensch in der Welt muss diese Ungerechtigkeit mit Abscheu zurückweisen.“ Itamar Ben-Gvir, der israelische Minister für nationale Sicherheit, sagte, Israel solle als Reaktion auf die Entscheidung des Gerichts das besetzte Westjordanland annektieren.
Berlin hatte versucht, die Haftbefehle zu verhindern
Netanjahu kann nun rein rechtlich gesehen kein Land der Europäischen Union mehr bereisen, ohne Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden. Die Niederlande haben am Donnerstag bereits angekündigt, dass sie Netanjahu festnehmen würden. Es wäre eine Situation, die in Deutschland angesichts des Holocaust kaum vorstellbar ist: Das Land der Täter verhaftet einen israelischen Regierungschef. „Wir halten uns an Recht und Gesetz“, hatte ein Regierungssprecher in Berlin im Frühjahr auf die Frage geantwortet, ob Deutschland einen Haftbefehl umsetzen würde. Außenministerin Annalena Baerbock hatte zudem gesagt, dass Deutschland die Unabhängigkeit der internationalen Gerichte schätze, auch wenn man nicht jede Entscheidung für richtig halte.
Die Bundesregierung hatte aber gleichzeitig versucht, die Haftbefehle zu verhindern, und einen Brief an das Gericht geschrieben, in dem die Richter gebeten werden, Israel die Zeit zu geben, mögliche Verbrechen selbst aufzuklären. Das Land sei ein Rechtsstaat, das Weltstrafgericht dürfe nur dann einschreiten, wenn Nationalstaaten nicht selbst „willens und in der Lage“ seien, Vorwürfe selbst aufzuklären. Ähnlich argumentierten auch die USA, Tschechien und Ungarn. Die Richter sahen nun aber offenbar keine Anzeichen, dass Israel selbst mögliche Verbrechen aufzuklären gedenke.
Wie Netanjahu sich weiter verhalten wird, ist unklar, wichtige Länder wie die USA und viele arabische Nationen sind dem Gericht in Den Haag nicht beigetreten, dessen Haftbefehle in der Vergangenheit auch von Mitgliedsstaaten ignoriert wurden: Südafrika weigerte sich beispielsweise Sudans Diktator Umar al-Baschir festzunehmen. Trotzdem beschuldigte Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof Israel des Völkermordes, ein Verfahren, das noch anhängig ist.