Teile der Öffentlichkeit haben es noch nicht mitbekommen, aber beim VfL Wolfsburg haben sie die Rückennummer Neun an den Schweden Amin Sarr vergeben. Die Neun haben beim VfL bereits ein paar prominente Stürmernamen getragen, darunter der wirklich riesengroße Edin Dzeko, der ebenfalls beachtliche Ivan Perisic oder der stets verlässliche Andrzej Juskowiak. In dieser Saison hat man die Nummer allerdings nur selten gesehen, weil sie unter einer Trainings- oder Winterjacke verpackt auf der Bank saß. Sarr, vor der Saison in einem laut Medienberichten «teuren Gesamtpaket» aus Lyon ausgeliehen, spielte so selten, dass man ihn für eine Art Phantom im Wolfsburger Kader halten konnte. Und wenn er mal doch kurz ran durfte, blieb der Eindruck derselbe: Zu sehen war Sarr, 23, ja doch wieder nicht.
Am Samstag wurde der Stürmer dann nicht nur leibhaftig im Bremer Weserstadion gesichtet, die Wolfsburger Nummer Neun stand sogar in der Startaufstellung – zum ersten Mal seit Sarrs Dienstbeginn beim Werksklub. Aus Sicht des kriselnden VfL wäre allein das schon eine Erfolgsmeldung gewesen, wenn es bei dieser Auswärtsreise nicht so viele davon gegeben hätte, dass man glatt den Überblick verlieren konnte: Durch das 2:0 gegen den SV Werder haben die Wolfsburger ihr erstes Spiel im gar nicht mehr so jungen Kalenderjahr 2024 gewinnen können; und weil dieser Sieg passenderweise mit dem ersten Spiel des neuen Trainers Ralph Hasenhüttl zusammenfiel, war auch diese Premiere den eigenen Vorstellungen entsprechend verlaufen.
Der bislang so unglückliche Sarr hat dabei einen soliden Eindruck hinterlassen, aber entscheidend war die Botschaft, die von seiner überraschenden Berufung ausging: sobald ein neuer Coach übernimmt, werden Hierarchien neu geordnet, eine neue Unvoreingenommenheit breitet sich in der Kabine aus und bislang ignorierte Spieler tauchen aus der Versenkung auf.
Mitunter nutzen Trainer diese beliebte Kehraus-Strategie, um einen «neuen Impuls» zu setzen, wie das an Fußball-Stammtischen gerne heißt. Hasenhüttl dagegen ist gänzlich ohne Kabinenpopulismus vorgegangen, sondern mit einer aus seiner Zeit in Leipzig berüchtigten Sachlichkeit. «Ich bin nicht ins Risiko gegangen», sagte der Österreicher und erklärte auch gleich, warum: Aufgestellt habe er vor allem jene Spieler, die in den vergangenen zwei Wochen nicht mit ihren Nationalmannschaften unterwegs waren, sondern das tägliche Mannschaftstraining beim VfL absolviert haben.
Durch den Sieg hat Wolfsburg sich ein wenig Luft verschafft von der zuletzt gefährlich nahen Abstiegszone
Das war Hasenhüttl wichtig, weil die Weltreisenden infolgedessen gravierende Wissenslücken aufweisen. Und da war er konsequent: Außer Sarr durften in Stürmer Kevin Behrens oder Verteidiger Sebastiaan Bornauw weitere zuletzt nur sporadisch eingesetzte Akteure ran; etablierte Kräfte wie Spielmacher Lovro Majer oder Stürmer Jonas Wind blieben erst mal draußen. Die Detailarbeit im Training jedenfalls hatte sich gelohnt, denn die Maßnahme erreichte den von Hasenhüttl intendierten Effekt.
Die taktischen Wandlungsprozesse auf dem Rasen funktionierten einigermaßen zuverlässig, im Spielaufbau formierten sich die Wolfsburger mit vier Abwehrmännern und einer Doppelsechs, in Defensivphasen dann mit einer Dreier- oder Fünferkette. Dieser «Plan gegen den Ball» sei gut gewesen, berichteten die Wolfsburger Spieler unisono; Kapitän Maximilian Arnold bemerkte sogar, dass dieser Abwehrplan detaillierter ausgearbeitet gewesen sei als noch zuletzt. Wer wollte, konnte darin eine kleine Spitze gegen Hasenhüttls rotationswütigen Vorgänger Niko Kovac heraushören. Vielleicht wäre das aber ein wenig gemein. Denn aus dem Blickwinkel des Kroaten dürfte dieses Spiel so reich an Gemeinheiten gewesen sein, dass es schlimmer kaum ging.
Erst das 1:0 erzielt, dann mit Rot vom Platz geflogen: Wolfsburgs Maxence Lacroix (li.) erlebte einen abwechslungsreichen Arbeitstag in Bremen.
(Foto: Cathrin Mueller/Getty Images)
Während seiner quälend langen Abschiedsphase hatte Kovac immer wieder fehlendes Glück bedauert; am Samstag feierte diese mystische Kraft bei den Wolfsburgern ein eindrucksvolles Comeback: Erst vergab der Bremer Stürmer Nick Woltemade eine gute Chance zur Führung, dann sah der Bremer Verteidiger Anthony Jung wegen einer vermeintlichen Notbremse die rote Karte (42. Minute), obwohl ein mitgeeilter Teamkollege womöglich noch hätte eingreifen können. Im letzten Spiel von Kovac war eine ähnliche Szene zum Nachteil der Werkself noch genau andersrum entschieden worden. So wäre das womöglich auch beim Wolfsburger 1:0 durch Maxence Lacroix gewesen, der nach einem Eckball auch deshalb freie Schussbahn hatte, weil der Bremer Torwart Michael Zetterer zuvor von einem VfL-Spieler bedrängt worden war. Und als jener Lacroix später selbst wegen einer Notbremse vom Platz flog, habe sich Mittelfeldmann Arnold zwar gedacht: «Ohje, jetzt geht das schon wieder los.» Die Sorge vor dem zuletzt obligatorischen Wolfsburger Einbruch erwies sich aber als unbegründet.
Auch Hasenhüttls Sohn Patrick feierte sein Debüt – als Co-Trainer des Vaters
Stattdessen traf der eingewechselte Lovro Majer nach einem Konter zum 2:0-Endstand, indem er den Ball über Torwart Zetterer lupfte – ein herrlicher Treffer war das, der auch exemplarisch für Hasenhüttls Kalkulation stand: Wer so eine Bank habe, erklärte der Coach, der habe zugleich ein «Riesenpfund» in so einem engen Duell; außerdem sei es wegen der komplizierten Begleitumstände ohnehin nicht darum gegangen, die «Schönheit vom Himmel zu spielen». Den Wolfsburgern ging es lediglich um jene drei Punkte, die sie unter großer Kraftanstrengung und mit viel taktischer Disziplin geholt haben – und durch die sie sich ein wenig Luft verschaffen konnten von der zuletzt gefährlich nah herangerückten Abstiegszone.
Mitunter sei das Dargebotene noch «weit entfernt» von dem gewesen, was er im Idealfall sehen wolle, sagte Hasenhüttl noch mit leicht brüchiger Stimme. Sein Tonfall lag aber weniger am Gesamteindruck seines Premierenspiels als Wolfsburger Coach, sondern an der für ihn aufreibenden Zeit in England beim FC Southampton. Dort habe er seine Stimmbänder ramponiert, erklärte Hasenhüttl, er müsse deshalb nun etwas vorsichtiger sein.
Sein durchweg impulsiver Auftritt an der Seitenlinie allerdings hatte wenig von einer ärztlich verordneten Selbstschutzmaßnahme. Zur Not kann er das Schimpfen und Gestikulieren nun aber guten Gewissens weiter delegieren: Das Spiel in Bremen war auch das Debüt für den neuen Co-Trainer Patrick Hasenhüttl, der seine Spielerkarriere vor kurzem beim Halleschen FC beendet hat. Der Sohnemann, so viel lässt sich bereits sagen, hat sich da bereits einiges von Papa Hasenhüttl abgeschaut.