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Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte eine „schnelle und zügige“ Lösung an. Mehrmals verwendete er diese Wörter, als der SPD-Mann am frühen Montagabend zum informellen Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel eintraf. Nur eine Frage weniger Stunden schien es zu sein, bis das oberste Gremium der EU für Ursula von der Leyen den Weg zu einer zweiten Amtszeit als Kommissionspräsidentin ebnen würde. Es wurde dann aber doch ein sehr langer Abend, und am Ende der Beratungen stand als Ergebnis: nichts. Zumindest nichts Konkretes.
Ursula von der Leyen war zu der Runde geladen und konnte einige Gedanken zur Zukunft der Europäischen Union vortragen. Aber über das in den vergangenen Tagen und Wochen vorbereitete Personaltableau gab es keine Verständigung. „Es gibt keine Einigung heute“, sagte der amtierende Ratspräsident Charles Michel, als er gegen Mitternacht vor die Medien trat. Und das sei auch keine Überraschung, fügte er hinzu. Man habe sich lediglich zu einem ersten Gedankenaustausch über das Ergebnis der Europawahlen verabredet.
Das stimmte allerdings nur bedingt. Denn die Europäische Volkspartei (EVP), die Sozialdemokraten und die Liberalen hatten sich zuvor auf ein Personaltableau geeinigt, das es scheinbar nur noch abzusegnen galt.
Es sah vor, dass die vom CSU-Politiker Manfred Weber geführte EVP die Spitze der EU-Kommission besetzen darf. Sie war mit Ursula von der Leyen als Spitzenkandidatin als klare Siegerin aus den Europawahlen hervorgegangen und hatte sich darauf festgelegt: Die CDU-Politikerin soll weitere fünf Jahre die Exekutive der EU leiten.
Sozialdemokraten sollen den Ratspräsidenten stellen, Liberale die Außenbeauftragte
Die Sozialdemokraten dürften nach der vorläufigen Übereinkunft bestimmen, wer die Nachfolge des Belgiers Charles Michel als Ratspräsident antritt. Er hat die Aufgabe, die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs zu koordinieren und zu leiten. Die Wahl sollte auf den ehemaligen portugiesischen Regierungschef António Costa fallen. An die Liberalen würde das Amt des Hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik gehen; erste Kandidatin für die Nachfolge des Spaniers Josep Borrell ist die estnische Regierungschefin Kaja Kallas. Einigkeit schien auch darüber zu bestehen, dass die EVP in Person von Roberta Metsola das Amt der Parlamentspräsidentin behalten soll. Sie ist allerdings nicht Teil des am Montag besprochenen Personaltableaus.
Woran es lag, dass keine Verständigung gelang, darüber gab es zunächst nur Spekulationen. Offenbar hatte die EVP sehr hoch gepokert. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk äußerte als Unterhändler der EVP Bedenken gegen António Costa und verlangte Klarheit, ob er wirklich nicht in ein Korruptionsverfahren verwickelt ist, das in Portugal läuft. Der kroatische Regierungschef Andrej Plenković trug den Wunsch der EVP vor, den Sozialdemokraten nur für zweieinhalb Jahre, also für die Hälfte der kommenden Legislaturperiode, als Ratspräsident zu nominieren. Die zweite Hälfte sollte an einen EVP-Kandidaten fallen. Das lehnten die Sozialdemokraten ab, als deren Unterhändler Olaf Scholz und der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez auftraten.
:Der Grüne Deal gibt ein Lebenszeichen
Unverhofft findet das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur eine Mehrheit in der EU. Das liegt an einer österreichischen Ministerin.
Plenković sagte nach dem Treffen, der Wahlsieg der EVP müsse bei der Vergabe von Posten angemessen berücksichtigt werden. Davon werde seine Partei nicht abrücken. Zweifel an Ursula von der Leyen seien bei dem Dinner nicht laut geworden.
Ende Juni offizieller Gipfel
Die Staats- und Regierungschefs werden sich am 27. und 28. Juni zu einem offiziellen Gipfel treffen. Auf die Frage, ob sich eine Mehrheit für das verabredete Personaltableau zumindest abzeichne, antwortete Charles Michel: Das könne er nicht beurteilen. Aber angesichts der vielen Krisenherde in Europa und der Welt sei es dringend geboten, die offenen Fragen noch im Juni zu klären. Das Europaparlament könnte dann Mitte Juli über von der Leyen abstimmen. Sie setzt im Parlament grundsätzlich auf eine Mehrheit aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen. Dieses Bündnis soll sich in der Besetzung der Spitzenjobs widerspiegeln.
Die Europäischen Verträge sehen vor, dass die Runde der Staats- und Regierungschefs als höchstes Gremium der EU eine Person für den Vorsitz der Kommission nominiert. Voraussetzung dafür ist die „verstärkte qualifizierte Mehrheit“, was heißt: Es müssen mindestens 72 Prozent der 27 Staats- und Regierungschefs für von der Leyen stimmen, und diese müssen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU vertreten. Die EVP stellt zwölf der 27 Staats- und Regierungschefs, braucht also noch mindestens acht Unterstützer.
Im Europaparlament muss Ursula von der Leyen von mindestens 361 der insgesamt 720 Abgeordneten gewählt werden. EVP, Sozialdemokraten und Liberalen kommen auf etwas mehr als 400 Sitze, das gilt im Europaparlament als keine sonderlich stabile Mehrheit. Olaf Scholz betonte am Montag noch einmal, dass das künftige Spitzenpersonal der EU und dessen Programm auch im Parlament von dem Dreierbündnis aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen getragen werden solle. Die Kommissionspräsidentschaft dürfe sich keinesfalls auf „rechte und rechtspopulistischen Parteien“ stützen. Er meinte damit vor allem Giorgia Melonis Fratelli d’Italia, mit denen viele EVP-Spitzenkräfte allerdings lieber zusammenarbeiten wollen als beispielsweise mit den Grünen.
Ob Giorgia Meloni eine zweite Amtszeit von Ursula von der Leyen unterstützt, blieb am Montag offen. Sie wird vermutlich darauf pochen, dass ihre Regierung einen Kommissar mit herausgehobener Stellung nominieren darf. Melonis Partei, die Fratelli d’Italia, gehören im Parlament der Fraktion „Europäische Konservative und Reformer“ (EKR) an und erheben den Anspruch, Teil der regierenden Mehrheit zu sein. Auch die Grünen haben von der Leyen eine Zusammenarbeit angeboten – allerdings geknüpft an die Bedingung, dass die EVP nicht mit Fratelli zusammenarbeitet.