Für sie: Hausbacken bis genial
Es gibt ein Kleidungsstück, vor dem viel zu lange Angst herrschte: die Weste. Zu groß die Sorge, auszusehen wie Teil eines Partnerlookpärchens auf einem Tandemfahrrad, wie ein alternder Hippie oder wie eine leidenschaftliche Anglerin. Dass die Westenpanik unbegründet ist, machen uns die jungen Influencer aus Lissabon, London und New York gerade vor: Sie tragen mit Überzeugung ihr neues Lieblingsteil in allen möglichen Varianten, aus Strick, aus gekochter Wolle oder aus indischem Cotton Quilt, also gesteppter Baumwolle mit Blumenmustern. Der Look, der gerade Tiktok und Co. flutet, ist, in Kombination mit ausladenden Blusenkragen und sehr langen Röcken vom Stealth Wealth Look weit entfernt, er ist eher: hausbacken-elegant.
Dieses Modell des bevorzugten Labels der Pariser It-Girls, Soeur, ist genau die richtige erwachsene Mischung aus Körperwärmung und Coolness und bringt alle Waistcoat-Vorteile: Eine Weste ist genau das Richtige, wenn die Sonne eigentlich schon scheint, aber der Winter noch in der Luft liegt; und sie verwandelt fast jedes Outfit in etwas Besseres. Man kann zum Beispiel weite Hemden ein bisschen mehr in Körpernähe bringen und muss gleichzeitig nicht frieren, auch die flatterigen Baumwollkleider aus dem Sommer kann man so schon im Frühling tragen. Dicke Wollsocken sind ausdrücklich erlaubt, denn es geht hier nicht um den Male Gaze, sondern ausschließlich um das Motto: Ich ziehe mich für mich selbst an.
Für ihn: Leicht mal schwierig
Während die sportive Daunenweste eher ein Utensil für jene Best Ager geworden ist, die schon eine gewisse Knochenkälte in der Brust spüren, ist die leichte Indoor-Weste etwas, das seit jeher in den Köpfen junger Männer herumspukt. Man denkt in dieser Lebensphase jedenfalls gelegentlich, dass so ein Gilet dem eigenen Look etwas Esprit und Weltläufigkeit verleihen würde oder einen zumindest abhebt von den anderen Hemd- und Pulloverträgern. Nun, die Mode ist zuletzt auch verstärkt dieser Ansicht und schickt, wie hier die Marke Uniqlo, jede Mengen Westen-Models in die Shootings und ins Schaufenster.
So gut das dann im Einzelfall aussieht, man muss doch ganz schön aufpassen, denn die Grenze zwischen cool und albern ist bei kaum einem Kleidungsstück so fließend. Im besten Fall haben die Weste und das ganze Outfit wohl so etwas wie einen Ateliercharakter. Man denke an den großen Westenträger Joseph Beuys, dessen Westen immer aussahen, als wären sie halb Arbeitskleidung, halb Stil-Entscheidung. Wenn es wirkt, als hätte man sie nur eben schnell vom Haken neben der Tür genommen, als wäre sie mit beiläufiger Souveränität jahrelang eingetragen worden, dann ist die Weste gut. Japanische Schriftsteller, melancholische Kriegsreporter, schweigsame Billardprofis mit dunklem Geheimnis – das ist so die Einflugschneise für einen männlichen Westenlook. Auf keinen Fall hingegen sollte es so aussehen wie bei Landhochzeiten, wenn die Männer die Anzugjacken ausziehen und dann in Weste rumhocken wie Pressfleisch in Bordüre. Ebenfalls zu vermeiden ist natürlich die Assoziation mit Improvisationstheater und Jongleur-Workshop.