Der Schock sitzt tief, auch am Tag danach. „Was nicht passieren durfte, ist nun passiert“, sagte Ulf Kristersson, der Ministerpräsident, ganz Schweden komme „in seiner Unterstützung für die Betroffenen zusammen – und in seiner Trauer über das, was passiert ist“. Die Flaggen vor dem schwedischen Königsschloss, vor dem Parlament und allen Regierungsgebäuden wurden auf halbmast gesetzt. Und selbst im südlichen Nachbarland Dänemark, in dem am 5. Februar eigentlich alle Fahnen gehisst werden, die überhaupt zu finden sind, um an den Geburtstag von Königin Maria zu erinnern, wird diesmal auf jegliche Beflaggung verzichtet.
Am Tag zuvor hatte ein Mann in einer Berufsschule im zentralschwedischen Örebro ein Massaker verübt. Der 35-Jährige hatte gegen 12.30 Uhr mit einer Automatikwaffe den Campus Risbergska betreten und angefangen, auf Studierende und Lehrer zu schießen.
Roberto Eid Forest, der Polizeichef von Örebro, sprach auf einer Pressekonferenz am Mittwochmorgen von einem „exzeptionellen Verbrechen. Es ist ein Albtraum“. Elf Menschen seien tot, darunter der Attentäter selbst. Über Geschlecht und Alter der Toten wurden keine Angaben gemacht. Sechs weitere Menschen wurden ins Krankenhaus gebracht, fünf von ihnen mit Schusswunden, die zunächst lebensbedrohlich erschienen. Mittlerweile habe sich der Zustand aller sechs Patienten stabilisiert. Die Polizei arbeite weiterhin „intensiv daran, die Beweggründe des Täters zu verstehen und herauszufinden, ob noch weitere Personen beteiligt sind“. Weder wollte er bestätigen, dass der Mann einen Waffenschein besaß, noch, dass er schon mal in psychiatrischer Behandlung war. Forest sagte nur, man gehe weiterhin davon aus, dass er allein gehandelt habe. Es gebe keinerlei Vermutungen über terroristische Motive, er sei der Polizei nicht bekannt gewesen und habe keine Verbindungen zu irgendwelchen Gangs gehabt.
Einige Angehörige, die nicht namentlich genannt werden wollten, sagten der norwegischen Zeitung Aftenposten, dass der Mann arbeitslos gewesen sei, sich von seiner Familie zurückgezogen und seinen Nachnamen geändert habe. Recherchen des Svenska Dagbladets zufolge hatte er in den vergangenen zehn Jahren keinerlei Einkommen.
Bildungsminister Johan Pehrson, der aus Örebro kommt und sogar an der Riksskolan, die früher ein Gymnasium war, zur Schule gegangen ist, sagte am Mittwochmorgen, nun sei erst mal Zeit zu trauern. Anschließend aber müsse darüber diskutiert werden, „welche politischen Maßnahmen wir ergreifen müssen, um die Schulen und alle, die diese Schulen besuchen, noch besser zu schützen“.
Die Zeitungen vergleichen den Anschlag mit anderen einschneidenden Momenten der Gewalt: dem Massaker von Utøya in Norwegen. Dem Anschlag auf Anna Lindh vor über 20 Jahren.
Kein Land kam dem Ideal einer offenen, vertrauensbasierten Gesellschaft vielleicht je so nahe wie Schweden um die Jahrtausendwende. Als die Außenministerin Anna Lindh am 10. September 2003 in einem Stockholmer Kaufhaus erstochen wurde, war das auch ein Anschlag auf dieses Modell einer freien Gesellschaft: Lindh war, so wie das in Schweden damals üblich war, ohne Leibwächter beim Einkaufen, es gab die symbolische Übereinkunft, Politiker seien nicht Teil einer abgehobenen Kaste, sondern immer auch Teil der Zivilgesellschaft, die sie qua Amt vorübergehend vertreten. Warum sich also vor seinesgleichen schützen?
Königin Silvia wünscht sich das alte Schweden zurück
Seither hat das schwedische Modell viele weitere Risse bekommen. Die nicht in den Griff zu bekommende Bandengewalt hat über die Jahre viele richtiggehend mürbe gemacht, der traurige Nachrichtenstrom von Schießereien und Handgranaten in Türeingängen wird oftmals einfach ausgeblendet.
Die konservativ-liberale Minderheitsregierung wird von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten (SD) geduldet – wobei es dem SD sehr wichtig war, dass Verbrechensbekämpfung zum zentralen politischen Thema wird. Das ist bisher nicht wirklich gelungen, allein seit dem 1. Januar gab es in Schweden 33 Explosionen und Detonationen von Granaten und Sprengsätzen. Vor einer Woche erst sagte Ulf Kristersson in Bezug auf diese neuerliche Gewaltserie: „Es ist ganz offensichtlich, dass wir die Welle der Gewalt nicht unter Kontrolle haben.“
Am Nachmittag kamen dann König Carl XVI. Gustaf und seine Frau, Königin Silvia, nach Örebro, um der Toten zu gedenken. Königin Silvia brachte dort zum Ausdruck, was wohl viele gerade denken: „In Schweden ist in letzter Zeit so viel passiert. Ich wünsche mir, dass wir alle gemeinsam das schöne Schweden zum Vorschein bringen, das es einmal war.“