In vielen Romanen gibt es das Motiv, dass eine Nebenfigur, die niemand auf dem Zettel hat, plötzlich im Mittelpunkt steht. Auf die österreichische Politik umgelegt, würde diese Rolle Christian Stocker zukommen. Dem Generalsekretär der konservativen ÖVP war Anfang Januar eigentlich nur jener Job übertragen worden, den sonst niemand in seiner Partei wollte: mit dem extrem rechten Herbert Kickl von der FPÖ eine Koalition einzugehen. Das Projekt scheiterte Mitte Februar, Christian Stocker aber blieb an der Spitze der ÖVP und handelte eine Dreierkoalition mit Sozialdemokraten und liberalen Neos aus.
Und so ist der Politiker, den niemand auf dem Zettel hatte, seit diesem Montag der neue österreichische Bundeskanzler. Bundespräsident Alexander Van der Bellen vereidigte Stocker und sein Kabinett bei einer Zeremonie in Wien. „Was lange währt, wird endlich gut“, sagte Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei der Zeremonie mit Blick auf die historisch langen Koalitionsverhandlungen. Er sei froh, dass die Parteien über ihren Schatten gesprungen seien und einen Kompromiss gefunden hätten. Angesichts der weltpolitisch höchst unsicheren Lage forderte er ein aktives Mitwirken Österreichs bei der Stärkung der EU. „Wir müssen den Frieden in Österreich und in Europa strategisch absichern.“
Stocker hat österreichischen Medien mehrmals erzählt, wie er die vergangenen Wochen erlebte. Nachdem Anfang Januar der erste Versuch zur Bildung einer Dreierkoalition zwischen ÖVP, SPÖ und liberalen Neos gescheitert und sein Vorgänger, Karl Nehammer, als Parteichef und Bundeskanzler zurückgetreten war, saß Stocker im Auto auf dem Weg nach Wien. Er rechnete damit, als Generalsekretär ebenfalls zurücktreten zu müssen, und zog sich in Erwartung eines langen Tages ein bequemes Outfit an, Jeans und Rolli. Der Tag endete damit, dass er sich als designierter ÖVP-Chef bereit erklärte, mit Herbert Kickl über eine Regierung zu verhandeln. Dem Mann, den er im Wahlkampf noch als Gefahr für die Demokratie und unerwünscht im Parlament bezeichnet hatte.
Unklar ist, ob das neue Regierungsprogramm überhaupt verfassungskonform ist
Irgendwo muss der 64-Jährige auch jenen mittelblauen Anzug herbekommen haben, mit dem er sich dann vor die Presse stellte und erklärte, „Verantwortung für das Land“ übernehmen zu wollen, weil die Situation nun „anders“ sei. Ein Auftritt, der ihm viel Kritik einbrachte, nicht zuletzt aus den eigenen Reihen. Stocker wurde zur Symbolfigur für eine einst ehrwürdige und nun geschwächte konservative Volkspartei, die sich nur noch an der Macht halten kann, wenn sie der extremen Rechten ins Kanzleramt verhilft.
Inzwischen sind die Kritiker leiser geworden. Das liegt auch daran, dass Stocker nachgesagt wird, in den Verhandlungen mit Herbert Kickl auf eine Art ruhig und hart geblieben zu sein, die Kickl schließlich dazu veranlasste, den Regierungsbildungsauftrag wieder niederzulegen. In den darauffolgenden Gesprächen mit Andreas Babler von der SPÖ und Beate Meinl-Reisinger von den liberalen Neos setzte Stocker dann ein sehr rigides Verständnis von Migrationspolitik durch. So sollen etwa der Nachzug von Familien Geflüchteter gestoppt und ein Kopftuchverbot für junge Mädchen verhängt werden. Beides Punkte, von denen nicht klar ist, ob sie überhaupt mit der Verfassung vereinbar sind.
Stocker ist zwar ein political animal, er kommt aus einer Familie von ÖVP-Politikern. Aber seine Regierungserfahrung beschränkt sich auf die Lokalpolitik. Stocker war Vizebürgermeister einer Stadt in Niederösterreich, dem flächengrößten Bundesland und jenem konservativen Kernland, das für die ÖVP so wichtig ist wie Bayern für die Union. Beruflich ist Stocker Rechtsanwalt, mit einer Ausrichtung, die man in der Jura-Bubble als „Feld-, Wald- und Wiesenanwalt“ bezeichnen würde: regional zuständig für Fälle von Familien- bis Verkehrsrecht. Manche glauben, der Anwaltsberuf sei sein großer Vorteil: Stocker könne die unterschiedlichsten Positionen so ungerührt vertreten wie seine Mandanten vor Gericht.
Die Eitelkeit, die nicht wenigen Anwälten nachgesagt wird, soll ihm aber fremd sein, in der ÖVP gilt er als zurückgenommen und pflichtbewusst. Als einer, der auch ein Leben abseits der Politik hat, mit einem Beruf und Hobbys wie Saxophonspielen und Fliegenfischen. Das dürfte in einer Partei, die vor nicht allzu langer Zeit noch von einem Selbstvermarktungsprofi namens Sebastian Kurz geleitet wurde, eine Abwechslung sein. Stocker selbst sagte vergangene Woche auf die Frage, ob er es fassen könne, nun tatsächlich Kanzler zu werden, einen so kryptischen wie poetischen Satz: „Es ist immer schön, wenn man das Buch von hinten lesen kann; im Leben und in der Politik ist es aber anders, da kann man nicht von hinten lesen und darf auch kein Kapitel auslassen.“