Von einer „nie da gewesenen Betroffenenzahl“ ist in der Magdeburger Staatskanzlei die Rede. Ein Mann war am 20. Dezember mit dem Auto in die Besuchermenge des Magdeburger Weihnachtsmarktes gefahren. Sechs Tote und etwa 300 Verletzte sind das schreckliche Ergebnis des Anschlags. Für die Verletzten, ihre Angehörigen und Einsatzkräfte organisiert Gabriele Theren Unterstützung. Zusammen mit ihrem vom Land finanzierten Team vermittelt sie finanzielle und andere Hilfen und beschafft auch mal ganz unkompliziert eine Unterkunft.
SZ: Wer kann sich an Sie und Ihr Team wenden?
Gabriele Theren: Zuerst haben wir – in Zusammenarbeit mit dem Opferbeauftragten des Bundes – über 600 Betroffene ausgemacht und angeschrieben. Aber es gibt auch Menschen, die auf uns zukommen. In Magdeburg zeigen LED-Screens in den Straßen und Einkaufszentren unsere Kontaktdaten an. An unsere Opferhilfe-Hotline kann sich jeder wenden, der auf dem Weihnachtsmarkt war und sich schlecht fühlt oder Angehörige hat, denen es so geht. Wir und die Kollegen von der Opferberatung des Bundes haben eine Art Lotsenfunktion. Wir hören uns die Probleme an, klären auf, welche Ansprüche die Menschen haben, und vermitteln Hilfsangebote.
Welche Angebote gibt es?
Bei den Angehörigen der Todesopfer unterstützen wir etwa im Rahmen des Sozialen Entschädigungsrechts mit den Beerdigungskosten. Die Verletzten und Schwerverletzten berichten mir, dass sie erst einmal gesund werden wollen, für sie gibt es gesetzliche Hilfen bei Reha und psychologischen Angeboten. Neben der Opferhilfe-Hotline wurde auch eine schulpsychologische Hotline eingerichtet, die rund um die Uhr erreichbar ist. Schließlich waren auch Kinder und ganze Schulklassen an diesem Tag auf dem Weihnachtsmarkt. Über die sogenannten „Schnellen Hilfen“ aus dem Sozialen Entschädigungsrecht können alle Betroffenen außerdem 15 Sitzungen bei der Traumaambulanz und die Hilfe eines sogenannten Fallmanagers in Anspruch nehmen. Letztere helfen dabei, Sozialleistungen zu beantragen.

Werden auch andere, langfristige, Strukturen aufgebaut, um den vielen Betroffenen zu helfen?
Wir arbeiten daran, eine Art Netzwerk zu schaffen, in dem alle Betroffenen auch in Zukunft in Kontakt bleiben können. Zudem hat die Psychotherapeutenkammer eigens neue Kassensitze für Therapeuten geschaffen, diese sind allerdings zunächst auf ein bis drei Jahre befristet.
In einer Pressekonferenz am Montag sprachen Sie auch von „unkonventionellen Hilfen“. Was heißt das?
Viele Hilfsangebote richten sich nach dem individuellen Bedarf. Dieser kann sehr unterschiedlich aussehen. Wir haben etwa einen Betroffenen bei uns im Krankenhaus liegen, dessen Ehefrau in einem anderen Bundesland lebt. Da haben wir eine Wohnung in der Nähe organisiert, damit sie ihn besuchen kann.
Gibt es Geld für die Betroffenen?
Das Soziale Entschädigungsrecht hilft selten direkt mit Geldleistungen, sondern finanziert etwa eine Reha oder eine Therapie. Für finanzielle Leistungen haben wir den Hilfefonds des Bundes und den Opferhilfefonds des Landes. Bei Letzterem wird gerade darüber diskutiert, ihn aufzustocken. Und es gibt die Spenden, die beim Roten Kreuz, Caritas und Diakonie sowie bei der Stadt eingegangen sind. Das sind mehr als zwei Millionen Euro – wie diese ausgegeben werden, darüber wird gerade beraten.
Die Bundesregierung hat gesagt, man wolle die Opfer als Terroropfer einstufen – was verändert sich dadurch? Und vor allem: Warum fallen sie bisher nicht unter diese Kategorie?
Dabei geht es um weitere Entschädigungen, sogenannte Härteleistungen, für Hinterbliebene von Opfern terroristischer oder extremistischer Gewalt, die vom Bundesministerium für Justiz verwaltet werden. Nach der derzeitigen Definition gilt der Anschlag in Magdeburg nicht als Terroranschlag, sondern als Kapitalverbrechen. Doch die Bundesregierung will diese Einstufung im Sinne der Opfer in diesem Fall ändern. Ich persönlich denke auch, dass es für die Menschen nicht nachvollziehbar ist, wenn der Anschlag vom Breitscheidplatz in Berlin im Jahr 2016 als Terror eingestuft wird und der Anschlag in Magdeburg nicht. Wie soll man den Menschen das erklären? Es geht auch anders: Unser landeseigener Opferhilfefonds in Sachsen-Anhalt kennt diese Unterscheidung jedenfalls nicht.
2019 versuchte ein Mann in Halle, in eine Synagoge einzudringen, und erschoss zwei Menschen. War man durch diese Erfahrung in Sachsen-Anhalt diesmal besser vorbereitet? Geht das überhaupt?
Definitiv ja. Der Anschlag in Halle war einer der Gründe, warum überhaupt die Stelle des Landesopferbeauftragten und unsere zentrale Anlauf- und Beratungsstelle geschaffen wurde. Wir haben eine enge Zusammenarbeit mit der Polizei und solche Situationen sogar in Übungen geprobt. Trotzdem muss man sagen: Eine Lage wie die jetzige könnten wir alleine nicht stemmen, dafür fehlen einfach die Kapazitäten. Deshalb ist es gut, dass der Opferbeauftragte des Bundes ebenfalls in Magdeburg mit dabei ist und die Zusammenarbeit so gut läuft.
Wie erleben Sie persönlich die Wochen seit dem Anschlag?
Als mir der Ruhestand bevorstand, hatte ich nicht damit gerechnet, irgendwann in so einer Situation zu sein. Andererseits habe ich schon den Pandemiestab geleitet: Kummer bin ich also gewohnt. Bisher läuft das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure reibungslos, die Betroffenen sagen mir, dass sie sich gut aufgehoben fühlen. Das freut mich.