Boris Pistorius läuft vorbei am Mahnmal für den jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto, wo einst Willy Brandt auf die Knie sank, er geht direkt hinein ins Museum zur Geschichte der Juden in Polen. Ganz am Ende kommt dort das dunkelste Kapitel, die Folgen von Zögern, Angst und Appeasement-Politik. Zwar erklärten Frankreich und Großbritannien im September 1939 nach dem Überfall auf Polen dem Deutschen Reich den Krieg, aber sie griffen nicht wirklich ein. Im Osten marschierten zusätzlich Truppen der Roten Armee ein. Polen kapitulierte, existierte nicht länger als unabhängiger Staat. Der Zweite Weltkrieg nahm seinen schrecklichen Lauf.
Pistorius ist dieser Besuch hier wichtig, über eine Stunde nimmt er sich Zeit, bevor die politische Gegenwart wartet. Der SPD-Politiker schreibt in das Gästebuch: «Als Nachbarn, Alliierte und Freunde stehen wir zusammen für Humanität, Frieden und Freundschaft. Wir tragen Verantwortung für unsere Vergangenheit und für unsere gemeinsame Zukunft.» Heute geht es dabei vor allem darum, die Ukraine nicht im Stich zu lassen. In Polen sind die Sorgen, was sonst folgen könnte, weit stärker zu spüren als in manch deutscher Debatte.
Geheimdienste warnen vor Putins Plänen
Nachdem die USA als großer Unterstützer durch die Blockade im US-Kongress vorerst ausfallen, kommen noch größere Lasten auf die europäischen Nato-Staaten zu. Pistorius sieht nach dem Treffen von Kanzler Olaf Scholz mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Polens neuem Ministerpräsidenten Donald Tusk am Freitag in Berlin die Chance zu einem neuen Aufbruch im Rahmen des sogenannten Weimarer Dreiecks. Auch, um mehr Waffen und Artilleriemunition für die Ukraine im Kampf gegen Russland zu beschaffen, auch außerhalb Europas. Die ersten Geheimdienste sollen bereits davor warnen, dass Wladimir Putin sich bei einem Fall der Ukraine schneller gegen Nato-Staaten wenden könnte, als viele es für möglich halten, als Jahreszahl fällt dabei angeblich 2026.
Im Zentrum des Besuchs steht Pistorius’ Treffen mit seinem neuen Amtskollegen Władysław Marcin Kosiniak-Kamysz, der ihn herzlich und mit militärischem Ehren in seiner Residenz empfängt – Pistorius grüßt die Soldaten auf Polnisch. Erst sprechen sie unter vier Augen, dann mit den Delegationen, das Interesse polnischer Medien ist enorm. Zu Hause in Berlin irritiert Pistorius’ SPD die Koalitionspartner FDP und Grüne gerade mit Aussagen wie der von Fraktionschef Rolf Mützenich, man müsse auch Wege suchen, den Krieg in der Ukraine «einzufrieren». Was viele so interpretieren, dass von Russland besetzte Gebiete abgegeben werden sollen. Hier in Warschau setzt man vielmehr darauf, dass Deutschland noch mehr Verantwortung und Unterstützung übernimmt – damit die Ukraine in eine möglichst gute Verhandlungsposition kommen kann.
Auf Mützenich angesprochen, betont Kosiniak-Kamysz: «Ein Einfrieren eines Konflikts ist keine Idee, die man erwägen sollte, das ist gefährlich.» In der Ukraine entscheide sich die Sicherheit der Ukraine, Europas und Polens. Auch Pistorius macht klar – und geht damit klar auf Distanz zu Mützenichs Aussagen: «Es würde am Ende nur Putin helfen.» Es dürfe keinen Diktatfrieden geben, vielmehr müsse die Ukraine-Unterstützung rasch weiter ausgebaut werden. In Polen wird an das versuchte Einfrieren nach der Annexion der Krim erinnert, Wladimir Putin nutzte die Zeit, um aufzurüsten und dann die gesamte Ukraine anzugreifen. Auch Pistorius mahnt, Putin könne dann den Krieg später umso stärker fortsetzen.
Im deutsch-polnischen Verhältnis gibt es einen Aufbruch
Kosiniak-Kamysz lobt das Engagement bei Waffenlieferungen, dass Deutschland 2022 und 2023 auch Polen mit Patriot-Systemen im Grenzgebiet zur Ukraine geschützt hat – und dass Pistorius nun eine deutsche Brigade mit knapp 5000 Soldaten zum Schutz der Nato-Ostflanke nach Litauen schicken will. Pistorius sagt, es gebe keinen Zweifel für ihn, Russland versuche gerade jeden Tag, «den Westen zu spalten, auseinanderzutreiben». Er reist am Dienstag auf den US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz, wo ein angesichts der Lage besonders wichtiges Treffen der Ukraine-Unterstützer aus rund 50 Staaten stattfindet – er lässt aber offen, ob Deutschland hier etwas neues auf den Tisch legen wird, rund sieben Milliarden Euro sind im laufenden Jahr von der Bundesregierung für die Ukraine-Unterstützung eingeplant. Tschechien hat zuletzt in 18 Staaten Geld für den Kauf von 800 000 Artilleriegranaten für die Ukraine aus Drittstaaten außerhalb der EU gesammelt. Deutschland will sich mit etwa 350 Millionen Euro daran beteiligen.
Zudem wollen die EU-Staaten durch mehr gemeinsame Beschaffung neben der Ukraine-Hilfe auch die eigenen Verteidigungsfähigkeiten ausbauen. Vieles kreiste innenpolitisch zuletzt um die Taurus-Marschflugkörper, aber auch in der Bundeswehr wird betont, man müsse vor allem erst bei Munition und Luftverteidigung mehr Hilfe organisieren, um ein endgültiges Kippen des Krieges zu verhindern. An der Front liegt die Überlegenheit der Russen bei der Artillerie teils bei eins zu zehn, und die Ukraine versucht, mangels Soldaten immer mehr Männer über 50 Jahre zu rekrutieren.
Immerhin gibt es im deutsch-polnischen Verhältnis einen Aufbruch, das zeigt dieser Tag. Mit der rechtskonservativen Vorgängerregierung war vieles schwer, bürokratischen Hürden bremsten den Aufbau eines Reparaturzentrums für Kampfpanzer aus der Ukraine und vieles mehr. Gemeinsam will man nun die Ausbildung ukrainischer Soldaten verstärken, zudem eine Panzerkoalition führen, um Kiew auf diesem Feld noch mehr zu unterstützen. Eines könne er aus eigener Erfahrung dem «lieben Wladyslaw» mit auf den Weg geben, sagt Pistorius am Ende: «Es wird ganz bestimmt nicht langweilig werden in diesem Amt.»