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Hochrangige Damen und Herren waren am Dienstag in Leipzig eingetroffen, aber im Vergleich zum meisterwarteten Mann der Stadt handelte es sich bei ihnen nur um regionale Größen. Die Damen und Herren hießen Manuela Schwesig, Markus Söder oder Andreas Bovenschulte und ließen sich in Autos mit verdunkelten Scheiben zum Kongresszentrum chauffieren, um dort bei einer Ministerpräsidentenkonferenz beisammenzusitzen, seit Pandemiezeiten bestens bekannt als MPK. Sicherheitsvorkehrungen wurden erhöht, der Verkehr rund ums Zentrum stockte und die Drohnenabwehr der Polizei Sachsen war im Einsatz. Dennoch ist davon auszugehen, dass ein relevanter Anteil der Stadtbevölkerung eher eine andere Frage beschäftigte, zum Beispiel: Wo bleibt eigentlich JNK?
JNK, wer weiß das nicht, steht natürlich für jenen Herren, der zwar nie ein ganzes Bundesland angeführt hat, aber jahrelang eine Art spiritueller Anführer der Arbeiterstadt Liverpool war. Gesichtet wurde Jürgen Norbert Klopp im Leipziger Stadion allerdings nicht. Sein aufsehenerregendes Engagement als oberster Obmann des gesamten RB-Fußballuniversums startet offiziell erst 2025. Mutmaßlich hat Klopp einfach seiner eigenen Impulskontrolle nicht getraut. Wie hätte das auch ausgesehen, wenn er, der jahrelang an der Seitenlinie im Dienste des FC Liverpool brodelte, jauchzte und tobte, einen Auswärtssieg dieses Klubs unbewegt zur Kenntnis genommen hätte? Mit Blick auf die Etikette hätte Klopp das zwangsläufig versuchen müssen, denn die Reds gewannen das Champions-League-Spiel 1:0 bei Leipzig – der wohl wichtigsten Filiale des globalen Fußballunternehmens, dessen Gesicht und Vordenker er bald sein wird.
Klopps Aura und Sachverstand sollen dabei helfen, die Rasenballer international erfolgreicher und somit bekannter zu machen, doch wenn das in der Königsklasse so weitergeht, wird es im neuen Jahr von ihm vorerst keine Field-Interviews an Dienstag- oder Mittwochabenden geben können. Die Leipziger haben ihr Konto auf drei von drei möglichen Niederlagen erhöht und stehen in der Tabelle nun auf einem wenig beeindruckenden 31. Platz – gerade noch vor dem punktlosen RB-Pendant aus Salzburg auf Rang 33. Langsam, aber sicher begeben sie sich somit in eine sportliche Gefahrensituation, die vielleicht nicht einmal durch den grundsätzlich wohlwollenden neuen Champions-League-Modus entschärft werden kann. Und das will schon etwas heißen. „Je weniger Spiele, desto mehr steigt der Druck“, stellte Trainer Marco Rose zutreffend fest, ehe er sich und seinem Team einen klaren Arbeitsauftrag erteilte: Mit dem Punkten, sagte Rose, dürfe man jetzt wirklich mal „langsam anfangen“.
In der Champions League reiche das so nicht, kritisierte Leipzigs Verteidiger Willi Orban
Interessanterweise machten die Rasenballer hinterher einstimmig eine Spielphase als problematisch aus, nämlich jene mit dem Ball. In der Bundesliga teilen sie sich die Tabellenspitze aktuell mit dem FC Bayern, bei nur halb so viel geschossenen Toren, dafür aber unter Zutun einer kraftstrotzenden Defensive sowie der stattlichen Zwischenbilanz von sechs Partien ohne Gegentreffer. Dass Mainz nicht Liverpool ist, weiß allerdings nicht nur Jürgen Klopp. Auch der RB-Verteidiger Willi Orban bemerkte die geradezu gigantische Herausforderung, wenn man hinten auf Mohamed Salah und Cody Gakpo aufpassen und zugleich Mittel und Wege finden muss, um sich an Virgil van Dijk und dem früheren Leipziger Ibrahima Konaté vorbeizukombinieren. „In der Bundesliga“, sagte Orban, reiche es, „gut zu verteidigen, vorne bekommst du deine Chancen.“ In der Champions League reiche dieses Minimalprinzip dagegen nicht.
Dabei waren die Leipziger ziemlich vorzüglich ins Spiel gestartet, ihr Pressing war griffig, und zahlreiche Bälle konnten im Mittelfeldzentrum erobert werden. Allerdings haben Ballgewinne den lästigen Nebeneffekt, dass sie zu einem Ballbesitz führen, welcher bei unsachgemäßer Ausführung ruckzuck in einem Ballverlust resultieren kann. Nach einer Viertelstunde gerieten die Leipziger immer häufiger in diese Verlegenheit, obwohl Rose einen zumindest formal mutigeren Ansatz wählte als zuletzt im heimischen Ligabetrieb: Viererkette statt einer konservativeren Variante mit drei resoluten Abwehrmännern, dazu standen in Benjamin Sesko, Xavi Simons, Lois Openda und Antonio Nusa eigentlich alle Offensivkräfte von Beginn an auf dem Platz, die gerade eine realistische Startelf-Perspektive haben.
Die entscheidenden Räume konnten allerdings nur selten angesteuert und noch seltener gefunden werden. Sesko setzte einen Kopfball übers Tor und einen Schlenzer daneben, nachdem die laut Klopp weltbeste Nummer zwei, Caoimhin Kelleher, bei einem Klärungsversuch etwas zu wagemutig aus dem Liverpooler Strafraum gestürmt war. Davon abgesehen: Openda fehlte der Raum für seine gefürchteten Vertikalläufe, der schmächtige Simons prallte immer wieder an Liverpools robusten Abwehrrecken ab. Und generell gebrach es den Leipzigern an jener Ausgebufftheit, wie sie in Europa nur Teams mit einem über Jahre gereiften Selbstverständnis haben.
Nach dem Rückstand fiel den Leipzigern nichts Produktives ein
„Wir wollen mit dem Ball zu schnell vertikal spielen“, erklärte Orban: „Wir haben viele Junge, das fällt auf, sobald sie es mit erfahrenen Recken zu tun bekommen.“ Recken, wie sie die Liverpooler hinten und vorne haben. Die Leipziger dagegen haben eine andere Unternehmenskultur etabliert, die vorsieht, dass Spieler für viele Millionen veräußert werden, sobald sie einen gewissen Reifegrad erreicht haben. Und von der 27. Minute an sah man das: Erst konterkarierten die Leipziger ihre „fleißige Verteidigungsarbeit“ (Rose) durch Traumwandlerei im eigenen Strafraum, sodass Salah per Kopf unbedrängt den Torschützen Darwin Núñez bedienen konnte. Und danach fiel ihnen – abgesehen von einer dreifachen Großchance durch Sesko, Nusa und Xavi – so gut wie nichts Produktives ein. Zum Niederländer erreichte RB am späten Donnerstag auch noch die Nachricht, dass er mit einer schweren Bänderverletzung am linken Sprunggelenk wochenlang ausfällt.
Das Spiel spannte einen kohärenten Erzählungsbogen über die beiden Auftritte gegen Juventus Turin und Atlético Madrid, wo den Leipziger jeweils nicht viel, aber am Ende doch genug fehlte, um 90 Minuten lang mit stabilen Branchengrößen mitzuhalten. Dieser Umstand hatte Oliver Mintzlaff, den Geschäftsführer des Brausekonzerns, jüngst zu einer per Kicker-Interview ausgesandten Krisenbotschaft veranlasst. Inhalt: Die Leipziger lieferten viel zu oft viel zu wenig ab.
Am Dienstag, als der Tag längst von der Nacht verdrängt worden war, spazierte Mintzlaff nun mit finsterer Miene und dem Handy am Ohr durch die Katakomben, lehnte sich gegen den Leipziger Mannschaftsbus und steckte das Handy in die Hosentasche. Mit wem er wohl sprach? Eine Person mit den Initialen JNK dürfte über die Leipziger Lage jedenfalls bestens im Bilde sein.