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Die Schritte ins Stadion von Saint-Denis sind wie die Schritte in eine andere Welt. Auf den Gängen im Inneren müssen die Sportler ausharren bis sie hineingerufen werden, und dann, nach den ersten Schritten, sind sie plötzlich umgeben von einer lärmenden, flackernden Masse, die Fans als hüpfende Punkte, in ihren bunten T-Shirts. Sie schreien, sie singen, sie klatschen und manchmal stampfen sie auch auf den Boden. Ganz am Anfang ihrer Karriere hat sich Gina Lückenkemper noch gewundert, wenn die Athletinnen neben ihr vor so einem berauschenden Gang vor Nervosität ganz laut durchschnauften. Sie selbst freute sich ja einfach nur, auf der großen Bühne zu stehen. Jetzt, in Paris, sagte Lückenkemper zu den lauten hüpfenden Punkten, denen sie im Vorlauf gegenübergestanden hatte: „Das hat mich ein bisschen umgehauen.“
Olympia, das ist doch nochmal etwas ganz anderes als die internationalen Rennen, die Lückenkemper als 16-Jährige schon bestritten hat, vor allem hier in Paris: Die heute 27-Jährige schindet sich viele Monate im Jahr bei ihrer Trainingsgruppe in den USA, da stecken mittlerweile viel mehr Hoffnungen und Ziele in so einem 100-Meter-Rennen. Am Samstagabend ging es für Lückenkemper um den Einzug ins Finale, 11,09 Sekunden brachte sie schließlich auf die Bahn, und schlitterte damit nur um zwei Hundertstelsekunden an ihrem großen Traum vorbei. „Heute war es sauärgerlich“, sagte Lückenkemper danach. Ein Olympia-Endlauf war seit 1988 – damals schaffte das Heike Drechsler – keiner Deutschen mehr gelungen.
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Lückenkempers Bestzeit von 10,95 Sekunden resultiert aus dem Jahr 2017, als sie noch unter ihrem Heimtrainer an Starts und Schrittfolgen getüftelt hatte. Woran sie hier in Saint-Denis gescheitert war, konnte sie spontan nicht sagen, was ohnehin schwierig ist bei zwei fehlenden Hundertstelsekunden. „Ich hab meinen Lauf noch nicht gesehen“, und gespürt hatte sie offenbar auch nichts. Der Weg aus dem Startblock hinaus auf die Bahn gehörte schon in jungen Tagen zu ihrer Schwäche, auch im Halbfinale kam Lückenkemper zunächst nicht richtig in Schwung und büßte trotz eines starken Schlussspurts wertvolle Zeit ein.
„Es wäre schön gewesen, wenn es heute 105 Meter gewesen wären“
„Es wäre schön gewesen, wenn es heute 105 Meter gewesen wären statt 100 Meter“, sagte Lückenkemper noch. Die 11,07 Sekunden, mit denen es Twanisha Terry aus den USA in den Endlauf geschafft hatte, seien eine Zeit „die ich voll drin hatte“, so Lückenkemper, „aber heute ist der Tag, an dem es gezählt hat“. Bei ihrem besten Lauf in diesem Jahr war sie 11,04 Sekunden schnell gelaufen, bei der Deutschen Meisterschaft Ende Juni in Braunschweig, auch das hätte für ihren großen Traum gereicht.
Stattdessen sprinteten einige Stunden später acht andere Frauen um den Olympiasieg. Julien Alfred aus St. Lucia holte sich etwas überraschend Gold und damit die erste olympische Medaille überhaupt für den Karibikstaat. Silber und Bronze gingen an die Goldfavoritin Sha’Carri Richardson und Melissa Jefferson, beide aus den USA.
Nach dem ersten Tag, als sie die Atmosphäre in Saint-Denis so überwältigt hatte, hatte sich Lückenkemper mit der Sportpsychologin des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) zusammengesetzt, um eine besondere Strategie zu entwickeln, wie man mit der ungewohnten Kulisse am besten umgehen kann. Das ist ja tatsächlich eine Krux an Olympischen Spielen: Eigentlich werden sie so selten ausgetragen, dass man alle Eindrücke abspeichern und konservieren muss für die Durststrecke bis zur nächsten Ausgabe, sollte es nochmal mit einer Teilnahme klappen. Aber es gilt ja auch, sich auf seinen Sport zu konzentrieren.
Es sei schwierig gewesen den Fokus zu behalten, hatte Lückenkemper nach ihrem Vorlauf am Freitag gesagt, „ich habe noch nie so eine extreme Atmosphäre in einem Leichtathletik-Stadion erlebt“. Die guten Tipps hätten geholfen, berichtete Lückenkemper nun nach ihrem Halbfinale, die Kulisse hätte sie überhaupt nicht tangiert.
Einen Abend ärgern, dann: Vorfreude auf den Staffellauf
Mittlerweile ist sie schon eine der erfahrensten Sportlerinnen des DLV, mit 19 Jahren hatte sie als jüngste deutsche EM-Starterin sowohl Bronze über die 200 Meter als auch mit der Sprint-Staffel gewonnen, nun absolviert sie ihre dritten Olympischen Spiele. 2016 in Rio war das Stadion kaum halb gefüllt, in Tokio wegen Corona völlig leer. 2022 war bisher das erfolgreichste Jahr von Lückenkemper mit Doppel-Gold bei der EM in München über die 100 Meter und als Teil der 4×100-Meter-Staffel, bei der WM in Eugene klappte es mit dem Team mit Bronze.
Einen Abend wolle sie sich jetzt ärgern, sagte Lückenkemper noch, aber dann steht die Vorfreude auf den Lauf mit dem Team für sie auf dem Plan. „Das kann etwas sehr Cooles und Großes werden“, sagte sie, „dann wird es nochmal richtig brennen auf der Bahn“. Passend zur Kulisse drumherum.