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Seinen Beruf zu mögen, aber trotzdem zu kündigen, ist für den jungen Arzt Park Jae-il aus Seoul kein Widerspruch. Im Gegenteil. Seine Karriere lief eigentlich wie geplant: Nach Medizinstudium und einjährigem Praktikum absolvierte er am renommierten Krankenhaus der Seoul National University (SNUH) das letzte seiner drei Jahre als Assistenzarzt. In diesen schließen junge Doktoren in Südkorea ihre Ausbildung zum Facharzt ab. Park war dabei, Hämatologe und Onkologe zu werden, also Spezialist für Blutkrankheiten und Krebsleiden. Er sagt: „Ich wollte Arzt werden, weil ich der Gesellschaft nützlich sein wollte.“
Aber im Februar entschied die konservative Regierung von Präsident Yoon Suk-yeol, die Zahl der jährlichen Zulassungen zum Medizinstudium im nächsten Jahr von 3058 auf 5058 anzuheben, weil es einen Ärztemangel gebe. Die Mediziner waren empört. Park Jae-il und viele andere, insgesamt über 90 Prozent der 13 000 auszubildenden Ärzte in Südkorea, kündigten aus Protest. Ihr Argument: Der drastische Anstieg ändere nichts am veralteten Gesundheitssystem, das Krankenhausleistungen so billig anbietet, dass Menschen sie bei jedem Zipperlein nutzen.
So gut wie nichts hat die Regierung bis heute geändert. Und jetzt ist Park Jae-il also seit sechs Monaten arbeitslos. Lebt vom Ersparten. Versucht, als Sprecher der SNUH-Assistenzärzte irgendetwas zu bewegen. Park, 28, ein schmaler, unaufdringlicher Mann, sagt: „Wir glauben, dass es eine sehr wichtige Zeit ist, um über das System und unser Leben nachzudenken.“
Die Krise des Gesundheitswesens in Südkorea zeigt, wie eine demokratisch gewählte Regierung ihr eigenes Wohlstandsland ausbremsen kann, wenn sie an Fachleuten vorbei entscheidet. Eine halbe Generation junger Ärzte droht dem Staat verloren zu gehen.
Besserung ist nicht in Sicht. Die Regierung verhandelt nicht über ihre Entscheidung, der Mediziner-Verband KMA lenkt nicht ein
Streiken dürfen Ärzte in Südkorea nicht, deshalb haben sie gekündigt. Vor allem die großen Krankenhäuser haben seither zu kämpfen, weil die Assistenzärzte normalerweise die Notaufnahme besetzen, Nachtschichten übernehmen, bei Operationen assistieren, Risikobehandlungen absichern. Die Grundversorgung läuft, aber Patienten berichten von langen Wartezeiten oder viel Hin und Her, bis sie ein Krankenhaus aufnimmt. Und die älteren Ärzte, die jetzt die jüngeren ersetzen, sind erschöpft. „Es ist sehr schwer, freizunehmen“, sagt die Professorin Kang Hee-gyung, die am SNUH die Abteilung für Kinder-Nierenheilkunde leitet.
Besserung ist nicht in Sicht. Die Regierung verhandelt nicht über ihre Entscheidung. Der Mediziner-Verband KMA lenkt nicht ein. Viele junge Ärzte wie Park Jae-il tun das auch nicht. Gerade hat die Regierung die Frist verlängert, in der Krankenhäuser ihre freien Praktikums- und Assistenz-Stellen für das zweite Halbjahr 2024 ausschreiben dürfen, weil es für die 7645 Stellen zunächst nur 104 Bewerber gab. Und Kang Hee-gyung sagt, auch Professoren hätten längst aus Protest ihre Kündigung eingereicht. „Meine liegt seit März bei der Krankenhaus-Leitung.“ Allerdings kann sie gerade nicht weg: Kang Hee-gyung leitet das Notfall-Komitee im Rat der SNUH-Fakultäten, das die Ausnahmelage managt und den Widerstand gegen den Regierungsbeschluss zum Ausdruck bringt.
60 Prozent mehr Medizinstudierende von einem Jahr auf das nächste – das würde wohl jedes Bildungssystem überfordern, denn ein Medizinstudium ist teuer und erfordert neben Fakultäten an den Unis freie Stellen an Krankenhäusern für die Facharztausbildung. Auch Deutschlands Gesundheitsminister Karl Lauterbach möchte 5000 Medizinstudienplätze mehr gegen den Ärztemangel. Aber erstens kann er das nicht ohne die Länder umsetzen, denen die Universitäten unterstellt sind. Zweitens würden Bund und Länder den Zuwachs wohl über mehrere Jahre hinweg finanzieren.
Südkoreas Regierung hingegen nutzt ihre Macht und ist sicher: Viel mehr hilft mehr. Auf SZ-Anfrage erklärt das Gesundheitsministerium, dass Südkorea unter den Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) besonders wenige Ärzte habe. Mehr Medizinstudienplätze seien „ein wesentliches Mittel, um dem Ärztemangel im Allgemeinen zu begegnen“.
Es gibt eine einheitliche Pflichtversicherung. Dafür können alle ins Krankenhaus kommen, auch wenn sie nur einen Schnupfen haben
Park Jae-il findet das „eindimensional gedacht“. Um ihn zu verstehen, muss man Südkoreas Gesundheitssystem kennen. Dieses ist im Grunde ein Traum für Patienten, bestens ausgestattet und preisgünstig. Es gibt eine einheitliche Pflichtversicherung, die sogenannte National Health Insurance (NHI), ein Sozialfonds, in den alle monatlich einzahlen. Dafür können alle für wenig Geld jederzeit ins Krankenhaus kommen, auch wenn sie nur einen Schnupfen haben. Die Folge: „Koreanische Menschen nutzen das Gesundheitswesen wie einen Markt“, sagt Kang Hee-gyung. Sie nehmen sich, was sie wollen, nicht unbedingt, was sie brauchen.
Südkoreas Ärzte haben so immer zu viele Patienten, laut OECD die meisten im Nationen-Vergleich. Gleichzeitig ist die Rechtslage so, dass Unfälle bei der Behandlung relativ leicht zu Klagen führen. Die Bezahlung ist nur dann hoch, wenn die Ärzte Behandlungen anbieten, die nicht die NHI abdeckt, sondern privat bezahlt werden. Deshalb drängen viele junge Mediziner in die einträgliche Schönheitschirurgie, während Fächer wie Kinderheilkunde kaum Nachwuchs finden. Und weil Südkorea im Weltrekord-Tempo altert, wächst die Belastung von Kasse und Ärzten.
Die Zahl der Medizinstudienplätze maßvoll anzuheben, könnte Teil der Lösung sein, finden die Ärzte. Aber das sei teuer und löse nicht die aktuellen Probleme, sagt Park Jae-il, „denn wer dieses Jahr mit dem Studium anfängt, ist erst in zehn Jahren ein gut ausgebildeter Arzt“. Erst mal müsse man die Leistungen des Gesundheitswesens so regulieren, dass der willkürliche Krankenhauskonsum aufhört. „Das System wurde seit Jahrzehnten nicht überarbeitet“, sagt Park, „die Ärzte halten es nicht für mehr nachhaltig, weil Koreaner zu wenig dafür bezahlen und es zu viel nutzen.“
„Ich habe das Gefühl, mein Stolz geht in diesem Beruf kaputt“, sagt Park Jae-il. Er überlegt jetzt, Jura zu studieren
Die Yoon-Regierung sagt, sie habe die Probleme im Blick. Aber erst mal brauche man mehr Ärzte. Gegenargumente dringen nicht zu ihr durch. Schon im Frühjahr erklärte sie: „Für uns ist der Gedanke schwer zu akzeptieren, dass die Regierung nicht nur die Meinung der KMA anhören, sondern sie auch noch um Erlaubnis fragen soll.“ Man habe viel debattiert und Experten befragt. Das Gesundheitsministerium verweist auf „wissenschaftliche Schätzungen“, wonach 2035 in Südkorea 10 000 Ärzte fehlen. Seit Januar 2023 habe es „28 Sitzungen mit dem Ärzteverband gehabt und die Diskussionen mit anderen medizinischen Gemeinschaften fortgesetzt“.
Allerdings hat Präsident Yoon immer gesagt, dass er an der Zahl 2000 nicht rüttelt. So liefen die Gespräche dann wohl auch. „Es gab ein Treffen Yoons mit dem Chef des Assistenzärzte-Verbandes, aber die Regierung sagte: Wir können über alles reden, nur nicht über unseren Beschluss“, sagt Park Jae-il. Der Streit ist festgefahren. Für die Regierung ist jemand wie Park im Grunde sogar kriminell, nachdem sie die Krankenhäuser anfangs angewiesen hatte, die Kündigungen junger Ärzte abzulehnen. Das Gesundheitsministerium schickt dazu den Satz: „Koreas Verfassung sieht vor, dass alle Freiheiten und Rechte zum Wohle der Allgemeinheit per Gesetz eingeschränkt werden können.“ Was diesem Wohle dient, entscheidet die Yoon-Regierung.
„Sie achten nicht mal unsere Menschenrechte wie die Freiheit, zu kündigen“, klagt Kang Hee-gyung. Aber wie geht es weiter? Park Jae-il sagt, viele SNUH-Kollegen würden letztlich wohl zurückkehren, an eine lokale Klinik wechseln oder in die Schönheitschirurgie. Er selbst muss bald zum Wehrdienst. „Da habe ich Zeit zum Nachdenken.“ Was tun, wenn er als Arzt ein besseres Gesundheitswesen vorschlägt und eine Regierung aus Nicht-Ärzten etwas anderes macht? Zusehen, wie das System immer kränker wird? „Ich habe das Gefühl, mein Stolz geht in diesem Beruf kaputt“, sagt Park Jae-il. Er überlegt jetzt, Jura zu studieren.