An Weihnachten hat die Armut Konjunktur. Das merkt Andreas Steppuhn, der Vorsitzende des Dachverbands Tafel Deutschland, daran, dass Lebensmittelspenden kurz vor Weihnachten üppiger als sonst eintreffen, um dann im Januar und Februar deutlich nachzulassen. Die Gelegenheit möchte Steppuhn dafür nutzen, um die Botschaften der Tafeln an die Adressaten zu bringen – vor allem an einen: den deutschen Sozialstaat.
Seit der Corona-Pandemie melden die Tafeln regelmäßig, dass sie an ihre Grenzen stoßen. Erst vergangene Woche berichtete Steppuhn, dass etwa 60 Prozent aller Tafeln die Menge der von ihnen ausgegebenen Lebensmittel beschränken müssten. Ein Drittel der Ausgabestellen versucht demnach, die Lage mit temporären Aufnahmestopps oder Wartelisten zu kontrollieren.
Dass die Lücke zwischen dem Angebot der Tafeln und der Nachfrage danach größer wird, liegt zum einen an den Supermärkten. Sie können dank moderner Software besser kalkulieren, wie viele Produkte am Ende des Tages übrig bleiben. Zum anderen ist da der steile Anstieg der Kosten im Alltag: Die Preise für Lebensmittel und nicht alkoholische Getränke sind in den vergangenen vier Jahren um etwa 32 Prozent gestiegen, wie das Statistische Bundesamt in diesem Sommer mitteilte. Zudem stellen sich immer mehr Menschen bei den Lebensmittelausgaben an: Seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine registrierten die Tafeln 50 Prozent mehr Nutzer als vorher. Somit versorgen bundesweit 975 Tafeln etwa 1,6 Millionen Menschen in Deutschland – von den etwa 14 Millionen Menschen, die nach dem Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes von Armut bedroht sind.
Manche erinnert der Besuch bei der Essensausgabe an Weihnachten. Doch viele empfinden Scham
Eine Besserung sei nicht in Sicht, im Gegenteil, sagt Steppuhn. Er rechnet damit, dass sich die Lage noch weiter verschärfen wird, falls die Politik nicht dagegen steuert. Die Tafeln seien lediglich dafür da, die Armut zu lindern, sie zu bekämpfen, sei Aufgabe des Staates: „Für uns ist das Rezept ganz einfach: Wir brauchen krisenfeste Einkommen, armutsfeste Renten und eine Erhöhung des Bürgergeldes. Dazu ist in den vergangenen Jahren zu wenig passiert.“ Dazu, wo das Geld für eine solche Sozialpolitik herkommen soll, hat er auch eine Meinung: „Eine Schuldenbremse ist aus meiner Sicht nicht mehr zeitgemäß, wenn ihr Einhalten nur auf Kosten der Ärmsten möglich ist.“
Auch für Holger Schoneville, Professor für Soziale Arbeit an der Universität Duisburg-Essen, liegt die Verantwortung bei der Armutsbekämpfung beim Staat: „Die Tafel springt an dem Punkt ein, wo die Maschen im Netz unserer sozialen Sicherung zu groß geworden sind.“ Er hält es für einen Skandal, dass in einem reichen Land wie Deutschland Armen auf diese Art geholfen werden müsse.
Die Tafeln sieht Schoneville, der seit 15 Jahren zu diesem Thema forscht, allerdings auch kritisch. Für ihn sind Lebensmittelausgaben eine Form von „Mitleidsökonomie“. Das bedeutet: Anstatt eines Sozialstaates müssen sich die Armutsbetroffenen auf die Großzügigkeit der freiwilligen Helfer und der Spender verlassen. „Das ehrenamtliche Engagement finde ich bemerkenswert, aber durchaus widersprüchlich“, sagt Schoneville. In Interviews, die er für seine Forschung mit Tafelkunden geführt hat, berichten viele, dass ein Besuch bei der Ausgabe sie an Weihnachten erinnere – auch jenseits des Dezembers. Gleichzeitig sei für die meisten der Gang zur Tafel mit tiefer Scham verbunden. Dadurch entstehe eine „merkwürdige Ambivalenz“, findet Schoneville.
Die Logistik kostet die Organisation viel Geld
Wenn es den Tafeln immer schlechter geht, sollte der deutsche Sozialstaat nicht helfen oder gar ihre Rolle übernehmen? Der Armutsforscher Schoneville findet, dass der Staat seine Priorität eher auf die Armutsbekämpfung legen sollte. Tafelchef Steppuhn hingegen ist der Idee nicht abgeneigt: „Wir fordern seit Jahren eine staatliche Unterstützung bei der Logistik.“ Für die Lebensmittel bräuchten die Tafeln Lager, die viel Geld kosteten. Oder ein Lebensmittelrettungsgesetz, das Spenden an die Tafeln vereinfacht. Doch bislang sind es nur Forderungen, auf die bisher noch keine Bundesregierung eingegangen ist.
Warum nicht? Das Bundesozialministerium verweist auf seine Antwort auf eine Kleine Anfrage im Juli 2023: Die Bundesregierung sei der Ansicht, so heißt es darin, dass sie allein verantwortlich ist für die Absicherung des Existenzminimums. Und das geschehe schon in Form von Sozialleistungen wie dem Bürgergeld oder auch der Einmalzahlung während der Corona-Pandemie.
Ob die Tafeln im nächsten Jahr im Advent wieder Menschen zurückweisen müssen, entscheide auch die neue Bundesregierung und deren sozialpolitischer Kurs, sagt Tafelchef Steppuhn. Dass die Sozialpolitik die Ausgabe von Lebensmitteln an arme Menschen überflüssig machen wird, glaubt er nicht: „Die Perspektive, dass es eines Tages keine Tafeln mehr gibt, sehe ich im Moment nicht, aber natürlich wäre sie wünschenswert.“