Am Ende eines sonnigen Pariser Frauenfinals, als ein Podest für die Fotografen und ein noch größeres für die Gratulanten aufgebaut waren, traf die Gegenwart des Tennissports auf die Vergangenheit. Sowohl Martina Navratilova, 67, als auch Chris Evert, 69, traten auf, um die Trophäen zu überreichen. Die Schale ging an die italienische Verliererin Jasmine Paolini, den schweren Silberpokal übergab Evert, in einem fabelhaften roten Hosenanzug, an Iga Swiatek. Zum vierten Mal hat Swiatek nun die French Open gewonnen, zuletzt dreimal hintereinander. Zur Feier des Tages rief die Stadionzeitung von Roland Garros in großen Lettern den „Jour de Sacre“, den Krönungstag, aus.
Die Paris-Bilanz von Martina Navratilova hat Swiatek schon übertroffen; und die sieben Siege von Chris Evert, Rekord seit 1986, als die beiden hochverehrten, gut befreundeten Rivalinnen letztmals ein gemeinsames Endspiel auf diesem Platz bestritten, sind auch nicht mehr allzu weit entfernt. Denn Iga Swiatek ist erst 23 Jahre alt, und sie hat ihr rotes Reich aus Sand, das sich im 16. Arrondissement von Paris erstreckt, inzwischen fester denn je in der Hand.

:Der höfliche Herr Sinner
Italiens Medien preisen ihn schon als Nationalheiligen. Doch Jannik Sinner, 22, aus Südtirol, die neue Nummer eins der Tennisweltrangliste, bleibt realistisch: Das Halbfinale in Paris gegen Carlos Alcaraz wird schwer genug.
Die beherzte Paolini, 28, hatte nach furiosem Beginn nicht den Hauch einer Chance gegen die Seriensiegerin, die nach 68 Minuten ihr Tagwerk mit einem 6:2, 6:1-Erfolg beendete. „Ich bin stolz auf mich, weil die Erwartungen von außen sehr hoch waren“, sagte Swiatek danach; sie habe das alles gut weggesteckt. Ihre Analyse des Finales gegen die Italienerin fiel trotzdem nicht zu ihrer vollen Zufriedenheit aus: „Sie hat mir den Aufschlag zu Beginn abgenommen, also war es kein perfektes Match.“ Swiatek hatte in den Tagen zuvor schon 6:0, 6:0 gewonnen, in nur 40 Minuten, beim schnellsten Sieg ihrer Karriere gegen die Russin Anastasia Potapowa. Und ihr Umgang mit der aktuellen Wimbledonsiegerin Marketa Vondrousova (6:0, 6:2) war auch nicht viel gnädiger.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass Polens patente Perfektionistin bald in einer Reihe mit den größten Sandplatzspielerinnen ihres Sports stehen könnte: Sie hat jetzt 21 Siege in Serie in Paris gesammelt und damit in dieser Kategorie Stefanie Graf übertroffen. Sie ist die jüngste viermalige Gewinnerin der French Open, sie ist zwei Jahre jünger, als es einst Justine Henin und Chris Evert waren. Von 94 Matches bei Sandplatzturnieren hat sie in ihrer Profikarriere nur zehn verloren, das ist eine Quote von 89 Prozent. „Diese Zahlen sind einfach nicht normal“, so fasste es Paolini in der Pressekonferenz nach dem Spiel zusammen: „Ich habe noch niemals gegen jemanden gespielt, der solche Intensität auf den Platz bringt.“ Swiatek sei eine „unfassbare Spielerin“.
Mit Zahlen lässt sich das Phänomen Swiatek allenfalls umreißen. Schwieriger ist es zu erkennen, was sie nahezu unschlagbar macht. Sie verfügt über keine Federerschen Zauberschläge oder Rafael Nadals Urgewalt; vermutlich wurde sie auch nicht in Drachenblut getaucht. Der frühere Tennisprofi und heutige Trainer und TV-Experte Christopher Kas beschreibt Swiateks Stärke als eine Kombination aus mehreren Elementen: „Ihr Spiel ist prädestiniert für Sandplatzbedingungen; und in Verbindung mit ihrer Fitness, ihrer mentalen Stärke und dem Nimbus, den sie mittlerweile hat, macht sie das fast unbezwingbar.“

Kas hat Swiateks Spielweise studiert, weil er früher die deutsche Tennisspielerin Jule Niemeier als Trainer betreute, die zweimal, in Melbourne und New York, gegen die polnische Weltranglistenerste antrat und jeweils nach bravourösem Kampf verlor. Zu Swiateks technisch herausragenden Fertigkeiten zählt Kas den Vorhandschlag, der dem Ball enorm viel Spin, also Effet, verleihe, sagte er am Rande der French Open zur SZ: „Sie schafft es mit dem Spin in der Vorhand sehr gut, die Höhe zu wechseln, diese Variation ist tatsächlich etwas Besonderes.“ Die Rückhand sei sehr solide und die Beinarbeit fantastisch. Swiatek habe eine spezielle Art sich zu bewegen, „immer in Balance, auch in schwierigen Positionen, explosiv, aber trotzdem geschmeidig“ – ähnlich wie Novak Djokovic.
„Iga bezwingt sich nicht selbst“, sagt der Experte Christopher Kas
Mit diesen sportlichen Fähigkeiten allein, sagt Kas, werde im Tennis jedoch niemand zu einer Seriensiegerin. Entscheidend sei Swiateks Klarheit im Denken, ihre Konzentration auf das Spiel: „Sie behält die Ruhe auch im größten Stress. Iga bezwingt sich nicht selbst.“ Für die Gegnerinnen habe das zur Folge, dass sie Punkt um Punkt bis zum letzten Ballwechsel durchspielen müssen. Die Wenigsten halten das durch.
Allerdings musste sogar Swiatek eine gehörige Schreckminute überstehen. Im Zweitrundenmatch gegen die viermalige Grand-Slam-Siegerin Naomi Osaka aus Japan – in der mit Abstand besten Partie im gesamten zweiwöchigen Wettbewerb – hatte sie einen Matchball gegen sich. Swiatek drängelte Osaka mutig zu einem Fehler, gewann 7:6 (1), 1:6, 7:5 und rettete sich nach einem 2:5, 0:30-Rückstand mit Glück in die nächste Runde. „Ich war fast draußen“, gab sie in ihrer Siegesrede im Stadion zu, als Martina Navratilova und Chris Evert hinter ihr standen.
Nach dem Fast-Fiasko gegen Osaka, die 17 einzelne Spiele in diesem Duell gewann, hat sich Swiatek noch mehr auf ihre Mission Titelverteidigung konzentriert: Alle anderen sechs Gegnerinnen konnten ihr zusammengerechnet nur noch 20 Spiele abnehmen.
„Ich versuche immer mein Bestes, unabhängig vom Zwischenstand“, hat Swiatek nach dem Finale auch gesagt und auf den Pokal gedeutet: „Dann weiß ich, dass ich später nichts zu bedauern habe – und dass ich ein Turnier in so etwas verwandeln kann.“ Fünf Grand-Slam-Trophäen hat sie jetzt erobert, einen US-Open-Sieg inklusive. Navratilova und Evert bringen es auf jeweils 18. Aber für Iga Swiatek hat das Rennen gerade erst begonnen.