Turnen ist ein Sport, der gnadenlos sein kann. Kein Ausgleich kann einen Fehler gutmachen, spontane andere Elemente bringen nichts. Mehr Kampfgeist wirkt nur verkrampft und führt zu Abzügen. Nichts also konnte die Tristesse des Lukas Dauser in diesem Moment lindern.
Eine Turnübung ist schon wegen des Gegensatzes von höchstem Muskeleinsatz und ständiger Präsentation von Eleganz eine Schwierigkeit: Es geht um viel Kraft, die den Bizeps blähen kann, und entscheidende kleine Details wie einen wackelfreien Abgang. Dauser, 31 Jahre alt, einst in Unterhaching und danach in Berlin wohnhaft, hat dies seit seiner Jugend geübt: immer elegant sein, immer die Beine beim Handstand im Lot, die Abgänge in den Stand, die Salti mit tadelloser Flugbahn. Doch jetzt, in der mit Gras begrünten Olympia-Turnhalle im Stadtteil Bercy, war es so weit: Dauser leitet das Ende seiner Karriere ein.
:Aus der Problembeziehung wird Freundschaft
Lukas Dauser hat endlich Gold am Barren errungen. Der WM-Erfolg des 30-Jährigen ist ein Höhepunkt in der deutschen Turn-Geschichte. Kann er auch eine neue große Ära anstoßen?
Auch deshalb, weil der Barren, wohl sein engster Freund ist – hinter seiner noch jungen Familie natürlich, den Angehörigen und vielleicht seines besten Kumpels. Am Montag hat die Beziehung zum Barren einen Knacks bekommen, seine Olympiaübung, die er vorgetragen hatte, war von einer Art, die er selber nicht verstanden hat. Fehler kann ein Turner immer einstreuen, aber nicht derart, dass er durchgereicht und Vorletzter im Finale wird.
Dauser war also ans Gerät gegangen, hatte das Kampfgericht gegrüßt, kurz ins Publikum geblickt, kurz seinen geliebten Barren fixiert und sich wie immer mit zwei, drei eleganten Griffen nach oben befördert. Seine Schmerzen, falls sie ihn noch beeinträchtigten, wollte er offenbar verdrängen. Jedoch, so einen Muskelbündelriss kann man nicht einfach ignorieren und links liegen lassen. Dauser befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Konzentration, aber sein rechter Oberarmmuskel steckte noch in einer weißen Binde. Keiner gewöhnlichen Binde, sondern einer besonders dicken Stützbinde, die ihm der deutsche Turn-Olympiasieger Fabian Hambüchen aus einer alten Kiste hervorholte.
Gold gewinnt Zou Jingyuan – ein „Jahrhunderttalent“
Doch Dauser war nicht der einzige Spitzenturner, der vor diesem einsamen Datum alle vier Jahre, dieser letzten Chance, Probleme bekam. Der Japaner Oka Shinnosuke fing plötzlich an, im Handstand vor- und zurückzuwandern, mitten in der Übung. Und der erfahrene Ukrainer Oleg Wernjajew schien kurzzeitig die Orientierung zu verlieren, als er bei einem Umgriff plötzlich zögerte, so als würde er die Kontrolle verlieren, und schon stand er – viel zu früh – auf dem Boden.
Dann war schon Dauser dran, nachdem er eben noch Wernjajews Fehler verfolgen konnte. Aber auch ihm unterliefen kleinere Wackler im Handstand. Seine Sicherheit auf diesem Gerät, die Akzente, die er stets wie ein Pianist auf die Holme setzte, exakt und punktgenau, bis zum Höhepunkt des Stückes, dem Doppelsalto mit halber Drehung in den Stand, diese Sicherheit fehlte plötzlich. Der Moment, in dem sich Dausers Paris-Hoffnung zerschlug, kam in der Sekunde, als er so richtig loslegen wollte, bei einem Unterschwung in einen weiteren Stütz. Was diesem exakten Turner fast nie passierte, trat nun doch ein, bei Olympia: Dausers linkes Bein blieb am linken Holm hängen. Nur kurz – aber doch deutlich zu sehen und im Ergebnis eine klare Abwertung.
Möglicherweise lag es aber nicht nur am Druck der einmaligen Chance oder an seinem Muskel, oder am Trainingsrückstand –nur fünf durchgeturnte Übungen standen nach der Verletzung zu Buche – weshalb sein Traum vom Olympiasieg nicht in Erfüllung gehen würde. Es lag vielleicht auch an Zou Jingyuan, möglicherweise gar die Zukunft des Barrenturnens. Der Chinese, den Dauser ein „Jahrhunderttalent“ nennt, könnte einer jener Ausnahmekönner werden, die in diesem Sport immer mal eine Dekade bestimmen können, wie Simone Biles das Frauenturnen.
Lukas Dauser stand nach der Übung noch eine Weile in der Mixed-Zone und antwortete auf die Frage, wie es denn weitergehe in seinem Leben. Dausers Miene war noch immer betrübt, jedoch bleibt vieles, Möglichkeiten und auch Pflichten, die ihn mehr und mehr in Beschlag nehmen werden. Wenig später erklärte er, dass dies sein letzter internationaler Wettkampf gewesen sei; die Bundesliga-Saison aber will er noch zu Ende turnen. Der Abschied vom Hochleistungssport wird ihn also noch ein wenig beschäftigen.
Was nicht bedeutet, dass er sich nicht später einmal bei einem Turnverein auf seinen alten Freund schwingt – elegant wie immer und die Beine beim Handstand schön im Lot.