Table of Contents
General Jurij Sodol kämpft seit 2014, als Moskau seinen Krieg im Osten der Ukraine begann, gegen die russische Armee. Zuletzt kommandierte der «Held der Ukraine» die Marine-Sturmtruppen, dann stieg der 53-Jährige zum Kommandeur der Vereinigten Streitkräfte auf. So hatten Sodols Worte besonderes Gewicht, als er begründete, warum das ukrainische Parlament eine Verschärfung des Mobilisierungsgesetzes beschließen solle.
Die Ukraine steht unter Druck: «Der Feind ist uns zahlenmäßig um das Sieben- bis Zehnfache überlegen, es mangelt uns an Personal», sagte Sodol. «In manchen Abteilungen haben wir zwei, in anderen drei oder vier Männer, wo acht bis zehn sein sollten.» Die Folge: Eine Brigade, die einen Frontabschnitt von 15 Kilometer gegen die russischen Angreifer verteidigen solle, könne faktisch höchstens fünf Kilometer halten. «Wir halten unsere Verteidigung mit letzter Kraft aufrecht», so General Sodol im Parlament.
Am Ende bekam der General, worum er gebeten hatte: 283 Parlamentarier (bei notwendigen 226 Stimmen) stimmten am 11. April für ein verschärftes Mobilisierungsgesetz, das mehr Männer an die Front bringen soll. Das Gesetz trifft einen Monat, nachdem Präsident Wolodimir Selenskij es unterschrieben hat, in Kraft. Die enormen Personalprobleme sind damit freilich ebenso wenig gelöst wie der dramatische Mangel an Munition und Flugabwehrmunition.
Von 800 000 aktiven Militärs waren bisher nicht einmal 300 000 an der Front
Dem Londoner Institut für strategische Studien zufolge zählt die Ukraine 800 000 aktive Militärs, doch nicht einmal 300.000 waren einem Präsidentenberater zufolge an der Front. Die meisten davon kämpfen seit Beginn der russischen Invasion. Präsident Selenskij zufolge sollen bis Februar 2024 rund 31 000 Ukrainer gefallen sein, doch Indizien deuten darauf, dass es tatsächlich über 100.000 Tote und bis zu mehreren Hunderttausend Verletzte sein dürften.
Wegen des drängenden Personalmangels, den hohe Offiziere der SZ schon im Herbst 2023 schilderten, verlangte der damalige Oberkommandierende Walerij Saluschnij, eine halbe Million Männer einzuberufen: Schließlich müssen neu Einberufene in der Regel erst monatelang für einen Einsatz trainiert werden. Präsident Selenskij indes schreckte davor zurück.
Im Dezember 2023 sagte Selenskij, er sehe bisher keine Notwendigkeit, eine halbe Million Männer einzuberufen – eine Aussage, die der neue militärische Oberkommandierende, General Oleksandr Syrsky, vor Kurzem bekräftigte. Weder Selenskij noch seine Kommandeure sagten freilich, welche Zahl sie für notwendig halten. Auch das nun beschlossene Mobilisierungsgesetz schweigt dazu. Beschlossen wurden nur Maßnahmen wie eine erneuerte Meldepflicht für wehrfähige Männer oder Sanktionsmöglichkeiten wie den Entzug des Führerscheins bei Entzug vom Wehrdienst.
Russlands Armee ist nicht mehr die chaotische Truppe, die vor zwei Jahren angegriffen hat
Vom jahrelangen Kampf erschöpfte Soldaten hatten gehofft, durch neu einberufene Soldaten abgelöst zu werden. Doch schon General Saluschnij dämpfte Ende Dezember 2023 angesichts der kritischen Lage an der Front Hoffnungen darauf: Für umfassende Rotationen fehlten schlicht neue Soldaten.
Dieser Einsicht beugte sich auch sein Nachfolger Syrsky: Auf seine Initiative wurde kurz vor der Annahme des neuen Mobilisierungsgesetzes eine Passage gestrichen, der zufolge Soldaten nach 36 Monaten Frontdienst ausscheiden könnten. «Die Eskalation der russischen Eskalation geht weiter, die Offensive findet buchstäblich an der gesamten Front statt. Es ist unmöglich, die Verteidigungskräfte in diesem Moment zu schwächen», sagte Verteidigungsministeriumssprecher Dmyrto Lasutin im Fernsehen zur Begründung.
Das sehen nicht nur die Ukrainer so. Christopher Cavoli, der kommandierende US-General in Europa, sagte am 10. April im US-Repräsentantenhaus, die in der Ukraine kämpfende russische Armee habe nichts mehr «mit der chaotischen Truppe zu tun, die die Ukraine vor zwei Jahren angegriffen hat». Außerdem fülle Russland seine Reihen viel schneller als erwartet. Allein im letzten Jahr habe Russland seine Fronttruppen von 360 000 auf 470 000 Mann gesteigert. Englands Militärgeheimdienst ergänzte am Mittwoch, der Kreml wolle in diesem Jahr 400 000 Soldaten einberufen.
Selenskij schreckte lange davor zurück, junge Ukrainer einzuberufen
Vor diesem Hintergrund könnte man erwarten, dass die Ukraine Männer mit allen verfügbaren Mitteln und in allen Altersklassen einberuft. Das aber ist bisher nicht der Fall. So werden in anderen Ländern junge Männer ab 18 Jahren an die Front geschickt. Die Ukraine aber hat nach den Kriegen des 20. Jahrhunderts und langer wirtschaftlicher Depression und folgenden Geburtenrückgängen sehr wenige junge Männer. Den Vereinten Nationen zufolge gibt es in der Ukraine doppelt so viele Männer in ihren Vierzigern als in ihren Zwanzigern, so die New York Times.
Selenskij schreckte lange davor zurück, junge Ukrainer einzuberufen. Im Mai 2023 beschloss das Parlament, das Alter für frontfähige Ukrainer von 27 auf 25 Jahre zu senken. Selenskij weigerte sich fast ein Jahr lang, das entsprechende Gesetz zu unterschreiben – und tat dies erst Anfang April. Die Entscheidung kann potenziell 150 000 junge Ukrainer an die Front bringen – doch erst nach Erfassung, Untersuchung in den Wehrkommissionen und monatelangem militärischem Training.
Tatsächlich sind an der Front dienende ukrainische Soldaten heute meist über 40 Jahre alt. Doch auch in dieser Altersgruppe verzichteten Selenskij und die Militärs bisher auf eigentlich naheliegende Maßnahmen. In der Ukraine können Militärs, Polizisten, Staatsanwälte und andere Uniformierte teils schon mit 40 Jahren in Rente gehen – ein Überbleibsel aus sowjetischen Zeiten. Der Parlamentarierin Galina Tretjakowa zufolge, die dem Ausschuss für Sozialpolitik und Veteranen vorsitzt, gibt es in der Ukraine über 200 000 derartige Militärrentner im wehrfähigen Altern zwischen 40 und 60 Jahren.
Der Regierung fehlt der politische Wille und eine klare Strategie, kritisiert die Opposition
«Diese Männer sind an der Waffe ausgebildet und sollten eigentlich vordringlich an die Front», sagte der SZ die Parlamentarierin Julia Klymenko von der liberalen, zur Opposition zählenden Holos-Fraktion. Doch tatsächlich wurden bisher gerade 5410 Militärrentner eingezogen, so eine Auskunft des Generalstabes.
«Das Problem ist nicht ein schärferes Mobilisierungsgesetz», sagt Klymenko. «Das Problem ist der Mangel an politischem Willen und einer klaren Strategie. Wie will man etwa Studenten und anderen jungen Ukrainern begründen, dass sie an die Front sollen, wenn etwa Hunderttausende geeignete Militärrentner nicht mobilisiert werden?»