Es war ihr erster außenpolitischer Auftritt, seit Joe Biden seinen Rückzug bekannt gegeben hatte, und Kamala Harris wird gewusst haben, wie genau ihre Worte verfolgt werden. 40 Minuten lang hatte die US-Vizepräsidentin Israels Premier Benjamin Netanjahu getroffen, doch ihr anschließendes Statement sahen viele als Äußerung einer möglichen US-Präsidentin.
Der Austausch mit Netanjahu sei „offen und konstruktiv“ gewesen, sagte Harris. Sie bekräftigte ihre „unerschütterliche Verpflichtung“, für Israels Sicherheit einzutreten, und sagte, das Land habe das Recht, sich zu verteidigen. Es komme aber „darauf an, wie es das tut“, erklärte die Demokratin, die als Präsidentschaftskandidatin ihrer Partei festzustehen scheint.
Sie werde über das Leid der Menschen in Gaza nicht schweigen, sagt Harris
„Es ist an der Zeit, diesen Krieg zu beenden“, sagte Harris. Aber sie betonte auch, dass Israels Sicherheit gewährleistet sein müsse und alle Geiseln freikommen müssten. Allerdings verlangte sie, dass Israel noch mehr zum Schutz der Zivilbevölkerung im Gazastreifen tue. Dort führt Israel einen Krieg gegen die Terrororganisation Hamas, die bei ihrem Überfall am 7. Oktober fast 1100 Israelis und 71 Ausländer ermordet hat. Dabei hatte Netanjahu gerade im US-Kongress das Vorgehen der israelischen Armee verteidigt und etwa erklärt, dass sein Land nicht die Lieferung von Lebensmitteln in den Gazastreifen verhindere.
Dies scheint Harris, die schon früher ihr Entsetzen über die Lage im Gazastreifen klarer ausgedrückt hatte als Biden, nicht zu überzeugen. Explizit sprach sie über die Bilder, die „tote Kinder“ zeigten und „verzweifelte, hungrige Menschen auf der Flucht“, die manchmal „zum zweiten, dritten oder vierten Mal“ vertrieben würden, und erklärte: „Wir können es uns nicht erlauben, angesichts des Leids zu erstarren, und ich werde nicht schweigen.“
Aus israelischen Regierungskreisen wurde darauf hingewiesen, dass das bilaterale Gespräch zwischen Harris und Netanjahu „ohne Spannungen“ verlaufen sei. Im Schutze der Anonymität wurde jedoch gewarnt, dass ihre Äußerungen die Verhandlungen mit der Hamas belasten könnten, da „unsere Feinde glauben können, dass Israel und die USA nicht zusammenstehen“ würden.
Vor dem Treffen mit Harris hatte sich Netanjahu 90 Minuten mit Joe Biden ausgetauscht. Der US-Präsident ließ anschließend schriftlich mitteilen, er habe den israelischen Regierungschef zu einem zügigen Abkommen über eine Waffenruhe und Freilassung der Geiseln im Gaza-Krieg gedrängt. Zudem sei über die Bedrohung der internationalen Sicherheit durch Iran gesprochen worden.
Noch ein Gespräch mit Trump, dann fliegt Netanjahu zurück
Beide trafen auch einige Familien jener Geiseln, die sich weiter in der Gewalt der Hamas befinden. Einer Erklärung zufolge, aus der die Zeitung Ma’ariv zitiert, fühlen sich die Angehörigen „optimistischer als zu jedem Zeitpunkt seit dem letzten Abkommen zur Freilassung von Geiseln im November“.
Bevor er am Wochenende nach Israel zurückkehrt, traf Netanjahu am Freitag in Florida noch Donald Trump. Dieser sagte danach, die von der Hamas festgehaltenen Geiseln müssten sofort freikommen. Ideologisch steht der republikanische Präsidentschaftskandidat dem konservativen Israeli näher, aber auch Trump forderte vorab bereits via Fox News, dass Israel den Krieg nun rasch beenden solle und es Zeit für einen Deal zur Freilassung der Geiseln sei. Netanjahu sagte in Florida, es gebe Bewegung in den Verhandlungen darüber.
In der kommenden Woche soll in Rom wieder verhandelt werden. Der Zeitung Yedioth Ahronoth zufolge soll CIA-Chef Bill Burns ebenfalls an den Gesprächen teilnehmen. Dass eine Einigung möglich erscheint, deuten auch Äußerungen des Weißen Hauses an. Demnach habe man einen „sehr detaillierten Text“ zur Umsetzung von Bidens Drei-Stufen-Plan ausgearbeitet. In der ersten sechswöchigen Waffenruhe würden alle weiblichen Geiseln sowie verwundete oder über 50 Jahre alte Männer nach und nach von der Hamas freigelassen. Etwa nach drei Wochen würde dann über die nächste Stufe verhandelt.
Als kritische Punkte, die aber laut US-Regierung „überwindbar“ seien, gilt etwa die Frage, ob Israel ein Vetorecht für einige palästinensische Häftlinge erhält, die freikommen sollen. Netanjahu forderte zuletzt, dass sein Land die Kontrolle über den sogenannten Philadelphi-Korridor entlang der Gaza-Grenze zu Ägypten behalten müsse. Allerdings berichten israelische Medien seit Tagen, dass Armee und Geheimdienste überzeugt sind, Israel auch unabhängig von dieser Kontrolle schützen und verteidigen zu können.