„Ist das Kunst oder kann das weg?“ Was, wenn weder das eine noch das andere zutrifft? In gewisser Weise ist alles und nichts von dem, was ein Kind hervorbringt, Kunst: das dicke Zebra ohne Beine, das womöglich ein gestreiftes Osterei ist. Der braun-graue … Regenbogen? Und schau an, die Oma auf der Wiese. Oder soll das etwa Frau Lemberger vor der Schultafel sein?
Das lustbetonte Schmieren beginnt schon bei den Kleinsten, die ihren Karottenbrei hingebungsvoll auf dem Tisch verteilen und dabei ihre Bewegungsspuren beobachten. Können sie einen Stift halten, fördert Zeichnen die Feinmotorik und das Selbstbewusstsein, haben Experten herausgefunden. Erste Kopffüßler, die Einhorn-Phase, ein Haus mit Kamin: Mit der Darstellung der eigenen Umgebung können Kinder sich ausdrücken und Erlebtes verarbeiten, was wiederum die Entwicklung fördert.
Weniger maßgeblich ist dabei offenbar, ob man Zeichnungen anschließend aufbewahrt. „Ist das Bild fertig, hat es seinen Zweck für das Kind erfüllt“, sagt Anja Mohr, Leiterin des Institutes für Kunstpädagogik an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. „Die Archivierung erfolgt auf dem Papier und ist damit abgeschlossen.“ Tatsächlich haben die meisten Kinder ihre Zeichnungen und Basteleien bald vergessen. Es ist also ziemlich unwahrscheinlich, dass sie beim Auszug aus dem Elternhaus nach ihren Kastanienmännchen fragen, um sie in die neue WG mitzunehmen.
Also geben Sie sich einen Ruck: Weg damit!
Wer jetzt zögert, verpasst den Absprung auf den Pfad der Vernunft, der zum Altpapiercontainer führt – dorthin, wo auch gelesene Zeitungen und Pizzakartons lagern, die ihren Zweck erfüllt haben. Warum nur fällt es manchen Eltern so schwer, sich von den Kritzeleien zu trennen?
Es ist die emotionale Aufladung, die ein Stück Papier für Eltern so wertvoll erscheinen lässt, sagt Kunstprofessorin Mohr. „Eine Expression des eigenen Kindes“, die seine Persönlichkeit verkörpert – die kann man wohl schlecht entsorgen. Das sei vergleichbar mit einer Tonbandaufnahme oder einem Video. „So etwas löscht man auch nicht, nachdem man es einmal angesehen hat.“ Andererseits kann man aber auch nicht alles aufheben. Das funktioniert ebenso wenig wie bei einem Kinderzimmer, das man konserviert, um das Kind bei sich zu behalten.
Diese Haltung, sagt der Philosoph und Autor Jörg Bernardy, käme einer Fetischisierung gleich, ähnlich wie bei einem archaischen Ritual, wo abgelegte Objekte als heilige Relikte dienen. „Die symbolische Überhöhung führt dazu, dass nicht der Mensch Macht hat über den Gegenstand, sondern der Gegenstand über den Menschen.“
In extremer Ausprägung kennt man das Phänomen von Promi-Reliquien: Die Sängerin Adele hat in einem Interview mit der Vogue gestanden, dass sie so einem Gegenstand verfallen ist. In ihrem Wohnzimmer hängt, hochwertig gerahmt, ein alter Kaugummi von Céline Dion. Das gelbliche Ding sei ihr wertvollster Besitz, sagt Adele. Auch das Blatt Papier, für das ein Fan in den USA 2020 umgerechnet 830 000 Euro bezahlte, wäre 1968 wohl im Müll gelandet (Altpapiertonnen gab es damals noch nicht). Wenn der Typ, der die Liedzeilen zu „Hey, Jude“ darauf gekritzelt hatte, nicht Paul McCartney gewesen wäre.
Spekulationen auf einen Promi-Status ihres Kindes oder auf Wertsteigerungen der Blumenkritzelei liegt den meisten Eltern hoffentlich fern. Bei ihnen sei es eher der Wunsch, ihren Nachwuchs vor Verletzungen zu bewahren, sagt Bernardy. „Das ruft gegenüber den Kinderzeichnungen eine Art Beschützerinstinkt hervor.“ Schon die Vorstellung, man würde beim Wegwerfen erwischt! Wer einmal in flagranti dabei ertappt wurde, weiß, wie man sich als Verräter fühlt.
Solche Befindlichkeiten kann sich allerdings nur leisten, wer über ausreichend Wohnraum und somit freie Flächen verfügt. Für den Rest gilt: entscheiden, loslassen, weitergehen – auch Kinder dürfen diese Erfahrung machen. Nur wer sich davor drückt, legt Sammelmappen an.
„Natürlich kann man ein Bild, wenn es eine besondere Bedeutung hat oder einen wichtigen Entwicklungsschritt illustriert, behalten“, sagt Mohr. „Die Auswahl trifft das Kind, so bekommt es einen Bezug dazu und kann seine Entwicklungsschritte nachvollziehen.“ Das Bild gehöre dann aber an die Wände der Wohnung – und zwar gleich. „Denn das Zeitfenster, in dem Zeichnungen eine Bedeutung haben, schließt sich wieder.“ Und dann ist es für die Entwicklung nicht mehr relevant, ob das Bild in einer Mappe liegt oder im Altpapier.
Was sich die Kunstpädagogin vor dem kleinen Künstler trotzdem verkneifen würde, ist die Aussage: „So. Den Rest werfen wir weg.“