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Erst in jüngster Zeit erfährt die Verfassung der Weimarer Republik eine differenzierte Würdigung. Als Rechtskonstruktion habe sie den Übergang in die nationalsozialistische Diktatur nicht aufgehalten, lautete vielfach der Einwand. Die „Machtergreifung“ im Januar 1933 erfolgte schließlich auf dem Wege einer legalen Revolution, mit Artikel 48, dem Instrument der Notverordnung, rechtlich sanktioniert. Intellektuellen Widerstand gegen den Zerfall der ersten Demokratie in Deutschland gab es kaum.
Ja, Lichtgestalten einer gegenwartsanalytisch präzisen Deutung der Situation sind an den Fingern einer Hand abgezählt. Von den Staatsrechtlern Hans Kelsen und Karl Loewenstein erschienen im Jahr 1932 Streitschriften zur Verteidigung der Weimarer Republik. Zu erwähnen ist die gleichfalls im Jahr 1932 erschienene ethnografische Studie des Soziologen Theodor Geiger „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“. Mit einer empirischen Analyse milieuspezifischer Mentalitäten und der Bereitschaft zur Übernahme antiparlamentarischer Propaganda gehört sie zweifellos zum Kernbestand kritischer Stimmen. Unbedingt hervorzuheben wäre Helmuth Plessners Schrift „Grenzen der Gemeinschaft“, eine frühe Stimme gegen den politischen Radikalismus während der Weimarer Republik, deren Erscheinen im Jahr 1924 exakt hundert Jahre zurückliegt und in seiner beklemmenden Aktualität zu würdigen wäre.
Beklemmend aktuelles Szenario
Karl Loewensteins „Apologie des liberalen Staatsdenkens“, seinerzeit vom Autor vor der Veröffentlichung im Siebeck-Verlag zurückgezogen, liegt nun vor, herausgegeben von dem Münsteraner Rechtshistoriker Michael Kubitscheck, der die Schrift mit einer sowohl wissenschaftsgeschichtlich instruktiven wie zeitgeschichtlich aktualisierenden Kontextuierung versieht. In einer Zeit, in der unter Verfassungsrechtlern sowie in der politischen Öffentlichkeit über Verfahrensschritte zur Wahl der Bundesrichter nachgedacht wird, um das nunmehr 75 Jahre alte Grundgesetz gegen seine innere Aushöhlung zu schützen, liest sich Loewensteins Schrift wie ein beklemmend aktuelles Szenario, als habe man einen Debattenbeitrag zum gegenwärtigen politischen Alltag vor sich.
Loewenstein, „der unverbesserliche Optimist, als der er nun einmal gebrandmarkt durch die Welt geht“, ist ein Verfassungsrechtler eigener Art, ein Avantgardist modernen politikwissenschaftlichen Denkens. In verschiedenen Arbeiten wird er nicht müde, ein pluralismustheoretisches Konzept von Interessen und demokratischem Interessenausgleich als funktionsnotwendigen Bestandteil politischer Systeme herauszustellen. Ein solches Denken rückt ihn an den Rand des staatsrechtlichen Mainstream seiner Zeit, verwirft den essenzialistischen Volksbegriff und plädiert für Demokratie als Verfahren. Jahrzehnte später wird eine systemtheoretische Lektüre von Verfassungen im Werk von Niklas Luhmann ausgearbeitet.
1933 wurde Loewenstein die Lehrbefugnis entzogen
Loewensteins Diagnose der Weimarer Verfassung ist deshalb aus einem weiteren Grund unbedingt lesenswert. Unter dem Schlagwort der militant democracy gilt das Werk Karl Loewensteins, dem 1933 die Lehrbefugnis an der Universität München entzogen wurde, „weil die Staatslehre und Staatsrecht im nationalsozialistischen Staat von einem Nichtarier nicht gelesen werden können“, längst mehr als ein Geheimtipp. In der stringenten Argumentführung überschreitet es seinen Anlass, im Binnendiskurs der Fachwissenschaft den Streit mit dem pronationalsozialistischen Staatsrechtslehrer Otto Koellreutter aufzunehmen. Was als Kampfschrift daherkommt, hat die Qualität eines historisch gesättigten Vademecums für eine politisch interessierte Leserschaft auch unserer Zeit.
Exemplarisch wird das Programm einer vergleichenden Politikanalyse, die die Interdependenz von Recht, Verfassung und Regierungssystem berücksichtigt, ausgeführt. Loewenstein, dessen Plädoyer für den Freiheitsgedanken als eine unhintergehbare Aufgabe des Liberalismus engagiert gegen die in seiner Zunft sich ausbreitenden Ideen von einem nationalen oder sozialen Rechtsstaat zu Felde zieht, greift in knappen sozialgeschichtlich sachhaltigen Porträts die antiliberalen Strömungen der Zeit, den russischen Bolschewismus wie den italienischen Faschismus, auf, um vor dem Hintergrund dieser Realgeschichte gewordenen Möglichkeiten die in Deutschland noch schwache Tradition des Parlamentarismus auszuzeichnen und argumentativ zu stärken.
„Protest gegen die Protestlosigkeit“
Pragmatisch orientiert empfiehlt Loewenstein Korrekturen an den Schwächen der Weimarer Verfassung, die er keineswegs verschweigt, wie etwa statt offener Konkurrenz der Parteien die Kontrolle der Parteifinanzen sowie eine Art staatlich kontrollierter Parteibildung, die nicht mehr als die in der Bevölkerung vorherrschenden politischen Präferenzen zu bündeln und zu repräsentieren habe. Die Erinnerung an das Schicksal der Weimarer Verfassung ist mehr als nur von historischem Interesse. Die Schrift, ein „Protest gegen die Protestlosigkeit“ seiner Zunft, ist auch mehr als Klage oder Mahnung. Wir leben in einer Zeit, deren Turbulenzen und Aufgeregtheiten den Wunsch freisetzen, dem muddling through, der Kunst des Politischen, abzuschwören. Manche Debatten bewirken ein Déjà-vu und hinterlassen den irritierenden Eindruck, dass erneut der „soziale Radikalismus seine Zeit für gekommen hält“, wie vor hundert Jahren Helmuth Plessner formulierte.
Karl Loewensteins engagierte Streitschrift für die Verfahrensdemokratie erweist sich als ein Schlüsseltext zum politischen Diskurs der Gegenwart. Man kann dem Herausgeber nur zustimmen, dass dem „Kampf gegen antiliberal-autoritäres Gedankengut … künftig nicht mehr nur Kelsen, sondern auch Loewensteins Verteidigungsschrift als Inspirationsquelle und Impulsgeberin dienen“.
Tilman Allert lehrte Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt.