In den Stunden danach ist es schon wieder die Rhetorik, die zählt. So war es im April, als das iranische Regime zum ersten Mal direkt Israel angriff und, kaum war es Morgen, verkündete, das sei es jetzt von seiner Seite aus mit Angriffen gewesen. Und so ist es auch an diesem Sonntag. Es ist mal wieder ein Tag danach im Nahen Osten. Einer, an dem mal wieder die Frage im Raum steht: Was folgt jetzt? Was kommt da noch?
Wochenlang hatte die Region die Eskalation gefürchtet. Ende Juli hatte mutmaßlich Israel in Beirut Fuad Schukr getötet, einen führenden Mann der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah, und nur Stunden später in Teheran dann Ismail Hanija, den Hamas-Anführer. Ein Doppelschlag, der die Region in eine extrem gefährliche Lage brachte, nicht zum ersten Mal seit dem 7. Oktober 2023, also seit dem Angriff der Hamas auf Israel. In Treue zur Hamas hatte die Hisbollah seither Israel mit mehreren Tausend Raketen beschossen. Beide Organisationen gehören zur „Achse des Widerstands“, dem iranisch angeführten Bündnis gegen Israel.
Der Krieg in Gaza fand nie nur dort statt, sondern auch an der libanesisch-israelischen Grenze und anderswo in der Region. Darum lebt der Nahe Osten seitdem mit der Gefahr eines noch größeren Krieges. Kaum ein Tag verging zuletzt ohne eine Drohung seitens der Hisbollah oder Irans, man werde die israelischen Tötungen rächen, man werde das „zionistische Regime“, wie sie dort zu Israel sagen, „bestrafen“.
Und jetzt, an diesem Sonntag? Klingt die Hisbollah jedenfalls nicht so milde wie im April das iranische Regime. Die 320 Raketen, die sie in der Nacht auf Israel abfeuerte, seien nur „eine erste Reaktion“, heißt es in einem Statement der Miliz. Die Militäroperationen würden noch „einige Zeit dauern“. Gleich im ersten Satz erwähnt die Hisbollah das Datum, den 25. August, an dem die schiitischen Muslime das Arbaeen-Fest feiern, im Gedenken an den Tod von Hussain ibn Ali. Der Enkel des Propheten Mohammed fiel im 7. Jahrhundert im Kampf. Nach Wochen des Wartens hat die Hisbollah also ein symbolisches Datum für den Angriff gewählt.
Am Abend meldet sich Hassan Nasrallah zu Wort, der Chef der Hisbollah, wie immer per Videoansprache aus einem geheimen Bunker. Dass Israel so lange auf den Vergeltungsschlag warten musste, sei Absicht gewesen. Als „Teil der Strafe“ hatte Nasrallah es kürzlich schon bezeichnet. Er genießt es wohl, dass sich Israel vor seinen Raketen fürchtet. Auf über 150 000 Stück wird das Arsenal der Hisbollah geschätzt, darunter nicht nur die üblichen Katjuscha, die in der Nacht zu Sonntag zum Einsatz kamen, sondern auch ballistische Raketen aus iranischer Produktion, die Ziele mitten in Israel treffen können.
Die Ziele, die die Hisbollah selbst am Sonntagmorgen auflistete, sind eher keine Kriegserklärung. Fast alle liegen sie im Norden von Israel, einige davon auf den annektierten Golanhöhen. Nur ein Ziel erwähnt Nasrallah explizit, eine angebliches Gebäude des israelischen Geheimdiensts Mossad in Glilot nördlich von Tel Aviv; die dortige Mossad-Einheit sei an der Tötung von Fuad Schukr beteiligt gewesen.
Ein präziser Schlag, flankiert von Hunderten Raketen zur Ablenkung, so will Nasrallah seine Operation verstanden wissen. Es kann sein, dass der Angriff größer ausgefallen wäre, hätte Israel nicht zuvor in der Nacht angegriffen. Andererseits dürfte die Hisbollah damit gerechnet und kalkuliert haben, dass längst nicht alle ihre Raketen ihr Ziel in Israel erreichen.
Die Organisation befindet sich genau wie Iran seit dem 7. Oktober in einer ambivalenten Lage. Einerseits attackiert sie fast täglich Israel, sie hat im Südlibanon eine „Unterstützungsfront“ eröffnet, wie sie es nennt. Ideologisch gesehen würde Nasrallah am liebsten sofort in den großen Krieg gegen den jüdischen Staat ziehen. Andererseits haben das iranische Regime und die Hisbollah die Eskalation gemieden, weil beide mehr zu verlieren als zu gewinnen haben. Gerade im krisengeplagten Libanon fände die Hisbollah mit einem Krieg gegen Israel wenig Sympathien, und auch Iran sucht gerade eher mehr Nähe zum Westen.
Dazu wissen Israels Feinde um die Armee mit Flugzeugträgern, U-Booten und Tausenden Soldaten, die die USA in die Region verlegt hat. Es dürfte, so merkwürdig das klingt, im Sinne der Hisbollah sein, dass es Israel gelang, sich allein gegen den Angriff zu wehren – anders als beim iranischen Angriff im April. Dass die USA nicht zum Schutz Israels eingreifen mussten, senkt das Risiko einer größeren Eskalation in der Region.
Die iranische Drohung schwebt weiter über Israel
So geht es jetzt wieder um die Friedensverhandlungen zwischen der Hamas und Israel in Kairo. Nasrallahs Stellvertreter Naim Kassim sagte vor einer Woche, die Vergeltung für den Tod von Fuad Schukr sei „unabhängig“ von den Verhandlungen. Sollte es zu einer Waffenruhe in Gaza kommen, sagte Kassim, heiße das, dass auch die Hisbollah ihre „Operationen einstellen“ werde. Vom iranischen Regime kamen ähnliche Aussagen.
Während die Reaktion der Hisbollah nun erfolgt sei, so Hassan Nasrallah, stehe die iranische Rache für Ismail Hanijas Tod noch aus. Sie könne zu „einem Moment der größten Überraschung“ für Israel kommen, sagte vergangene Woche Irans Vertreter bei den Vereinten Nationen. Man werde aber so reagieren, dass es die Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas nicht störe. Die iranische Drohung schwebt also weiterhin über Israel.