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Christine Lagarde bezeichnete den Kampf gegen die Inflation einmal als „Kunst“. Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank und ihre Ratskollegen werden in den nächsten Monaten erfahren, ob sie sich mit der Entscheidung, die Zinswende nach unten einzuleiten, verkünstelt haben. „Wir nehmen den Kampf gegen die Inflation sehr ernst, wir sind auf dem richtigen Weg, aber es wird ruckelig“, sagte Lagarde am Donnerstag nach der Entscheidung, die Leitzinsen erstmals seit 2019 wieder zu senken, und zwar um 0,25 Prozentpunkte.
Der Hauptrefinanzierungssatz, zu dem sich Banken frisches Geld bei der Notenbank besorgen können, liegt nun bei 4,25 Prozent. Der Einlagensatz beträgt 3,75 Prozent. Er gilt der Notenbank als wichtigstes Steuerungsinstrument, weil damit die Überschussreserven der Banken verzinst werden.
Lagarde betonte die Unsicherheit bei der Einschätzung der künftigen Inflationsentwicklung. „Geopolitische Spannungen können die Kosten für Fracht und Energie erhöhen, Klimakatastrophen die Preise für Nahrungsmittel“, sagte die EZB-Präsidentin, die auch auf hohe Lohnabschlüsse in der Euro-Zone verwies, deren Kosten die Unternehmen auf die Preise ihrer Produkte aufschlagen. „Wir werden so lange wie nötig eine restriktive Geldpolitik machen“, sagte Lagarde. Die Entscheidung im EZB-Rat fiel nicht einmütig, ein Notenbankchef stimmte laut Lagarde gegen die Zinssenkung.
„Mit dieser Zinssenkung setzt die EZB die Alarmstufe bei der Inflation um einen Schritt herunter. Angesichts der deutlichen Beruhigung des Inflationsgeschehens ist das gerechtfertigt“, sagt Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Dekabank. Es könne aber gut sein, dass eine hartnäckige Restinflation weitere Zinssenkungen in den kommenden Quartalen sehr schwierig gestalten werde, so Kater.
Die Entscheidung pro Zinssenkung kam nicht überraschend, die EZB hat die Öffentlichkeit seit Monaten auf diesen Beschluss vorbereitet. Lagardes Team folgt damit den Notenbanken in Kanada, der Schweiz und in Schweden, die bereits die Zinsen gesenkt haben. Die US-Notenbank Federal Reserve und die Bank of England warten hingegen noch ab. Es ist das erste Mal, dass die EZB voranprescht.
Eine Leitzinssenkung gilt häufig als Signal dafür, dass die Inflation besiegt ist. Doch das ist sie wohl noch nicht. Im Mai stieg die Inflation in der Euro-Zone nach längerer Zeit wieder an, und zwar auf 2,6 Prozent. In den beiden Monaten zuvor notierte der Wert noch bei 2,4 Prozent. Das ist natürlich ein Fortschritt verglichen mit der Inflationsrate von mehr als zehn Prozent im Herbst 2022. Doch die EZB strebt eine Teuerung von exakt zwei Prozent für die 20-Länder-Gemeinschaft an, und es könnte schwer werden, diese Zielmarke schnell zu erreichen.
:Leitzins tiefer, was nun?
Mit der Senkung der Leitzinsen möchte die Europäische Zentralbank die Wirtschaft ankurbeln. Welche Folgen das fürs Tagesgeld, Einlagen und für Immobilienkäufer hat.
Die Arbeitslosenquote in der Euro-Zone liegt mit 6,4 Prozent so tief wie nie zuvor
Das befürchten auch die Fachleute der EZB: In ihrer aktuellen Prognose geht die Notenbank davon aus, dass die Jahresinflation 2024 2,5 Prozent betragen wird – also deutlich über dem selbstgesteckten Ziel. Im Jahr 2025 erwarten die Währungshüter 2,2 Prozent. Erst 2026, so die Prognose, fällt die Inflation mit 1,9 Prozent knapp unter die Zweiprozentmarke.
Die Gründe für die weiter steigenden Preise sind vielfältig: Im Dienstleistungssektor, etwa für Restaurantbesucher schmerzhaft spürbar, hält sich die Inflation immer noch hartnäckig. Auch das Lohnwachstum in Deutschland und anderen Staaten der Währungsunion fiel im ersten Quartal unerwartet kräftig aus, deren Mehrkosten die Unternehmen häufig direkt auf die Produktpreise umlegen. Gewerkschaften nutzen ihre starke Verhandlungsposition, denn die Arbeitslosenquote in der Euro-Zone liegt mit 6,4 Prozent so tief wie nie zuvor.
Daher ist noch offen, ob Lagarde der ersten Zinssenkung schon bald die zweite und dritte folgen lassen wird. Im Rat gibt es unterschiedliche Strömungen. EZB-Ratsmitglied und Bundesbankpräsident Joachim Nagel betonte jüngst, man könne aus einer ersten Zinssenkung keine „Art Autopilot“ ableiten, bei dem gleich die nächste Zinssenkung folgen müsse. Man dürfe nichts überstürzen. EZB-Chefvolkswirt Philip Lane sagte in einem Interview mit der Financial Times, die EZB-Geldpolitik müsse trotz absehbarer Lockerungen „das ganze Jahr über restriktiv“ bleiben. Für die Regierungen der Euro-Zone, die Unternehmen und Privathaushalte bedeutet das: Die Leitzinsen würden zwar noch ein wenig mehr sinken – aber die Niedrigzinsen der 2010er-Jahre sind nicht in Sicht.
„Vermutlich wird sich die Zinssenkung diese Woche in der Rückschau als Fehler erweisen.“
„Angesichts der zunehmenden Verschuldungsprobleme wichtiger Euro-Staaten und der jüngsten Herabstufung des Frankreich-Ratings darf die EZB nicht den Eindruck erwecken, dass ihr die Finanzierbarkeit der Staatsverschuldung wichtiger ist als die Preisstabilität“, sagt Friedrich Heinemann, Volkswirt am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. „Aus heutiger Sicht sind daher ein bis zwei weitere Zinssenkungen das Maximum, was für dieses Jahr zu verantworten ist.“
Im Juli 2022 beendete die EZB ihre jahrelange Politik der Null- und Negativzinsen, um die von der Notenbank anfangs unterschätzte und schließlich auf Rekordhöhe steigende Inflation in den Griff zu bekommen. Zehnmal hintereinander schraubte die Notenbank die Zinsen nach oben, ehe sie ab September 2023 eine Pause einlegte. Der Hauptrefinanzierungssatz lag bis Donnerstag mit 4,5 Prozent so hoch wie zuletzt im August 2001. Der Einlagenzins erreichte in dieser Zinserhöhungsphase mit vier Prozent das höchste Niveau seit Bestehen der Währungsunion 1999.
„Vermutlich wird sich die Zinssenkung in der Rückschau als Fehler erweisen“, meint Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Die Verbraucherpreise – ohne die schwankungsanfälligen Preise für Energie und Nahrungsmittel – würden seit Jahresanfang wieder stärker steigen. Zudem, so Krämer, sei ein Abwärtstrend bei den Tariflohnsteigerungen noch nicht zu erkennen.