Annalena Baerbock hat zum Ende ihrer Amtszeit noch einmal ihr Talent zur Polarisierung bewiesen, als die Bundesregierung diese Woche überraschend bekannt gab, die scheidende Außenministerin werde für das Amt der Präsidentin der UN-Generalversammlung vorgeschlagen. Ein unanständiger Coup zulasten der bereits nominierten Spitzendiplomatin Helga Schmid und nebenbei der Verrat an der selbstpropagierten feministischen Außenpolitik? Ein in diesen Gefilden der Politik nicht unüblicher Machtzug? Eine Selbstversorgungs-Entscheidung?
Baerbock hat drei Jahre lang als Außenministerin ihr Gespür für die Schmerzpunkte in der Politik bewiesen und gezeigt, dass sie selbst in der Lage ist, Druck auszuhalten. Als ihr während des Wahlkampfes 2021 Plagiate bei dem gerade veröffentlichten Buch nachgewiesen wurden, sahen viele die Karriere der Politikerin bereits zerstört. Doch Baerbock ist hartnäckig. Die Kritik ihrer Gegner und auch vieler Mitarbeiter im Auswärtigen Amt: Sie lebt von der Polarisierung, das macht sie stark und sichert ihr eine treue Anhängerschaft. Allerdings arbeitet sie dabei vorwiegend auf eigene Rechnung. Die Antwort ihrer Fangemeinde: Die Kritik ist Ausdruck der Missgunst gegenüber einer jungen und erfolgreichen Frau. Und wer im politischen Spitzenamt arbeite eigentlich nicht auf eigene Rechnung? Eine Bilanz also.
Ukraine und Russland

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Amtszeit von Annalena Baerbock dominiert. Als Grüne musste sie im Unterschied zum sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz in der Russland-Politik nicht erst eine Zeitenwende vollziehen. Schon im Wahlkampf hatte sie sich gegen die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 und für eine prinzipienfeste Haltung gegenüber Moskau eingesetzt. Als Außenministerin warb Baerbock für eine konsequente Unterstützung der überfallenen Ukraine, die sie während ihrer Amtszeit siebenmal besucht hat. Damit setzte sie sich deutlich von Scholz und seiner zögerlichen Haltung ab – was ihr in der Region viele Sympathien eintrug.
In Kiew war Baerbock ein gern gesehener Gast. Sie galt als verlässliche Verbündete – im Unterschied zu Scholz. „Sie war die konsequenteste Stimme für die Unterstützung der Ukraine in der Regierung“, sagt Stefan Meister, Osteuropa-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Durchgesetzt habe sich Baerbock aber kaum. So gut deren „schöne Reden“ in Kiew angekommen seien, sei der Führung in Kiew doch schnell klar geworden, dass die Entscheidungen letztlich im Kanzleramt fallen. Neben der Ukraine legte Baerbock einen Schwerpunkt auf die Unterstützung der kleinen, von Russland stark bedrohten Republik Moldau. Hier hinterlässt Baerbock nach Einschätzung vieler Experten bleibende Akzente.
Nahost
Seit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 war es für Baerbock ein Balanceakt, das Recht Israels auf Selbstverteidigung zu betonen und gleichzeitig auf die dramatische Situation der Zivilbevölkerung in Gaza einzugehen. Während Kanzler Scholz den Beistand Deutschlands für Israel aus Gründen der Staatsräson in den Vordergrund schob, thematisierte Baerbock auch das Leid der palästinensischen Bevölkerung, übte Kritik an der israelischen Regierung und dem Vorgehen der Armee. Echte Meinungsunterschiede gab es in diesem Punkt aber kaum, eher verteilte Rollen.
Um die Lösung des Konflikts oder zumindest humanitäre Erleichterungen ging es in vielen Gesprächen mit den Amtskollegen aus Katar und Saudi-Arabien. Dabei spielten weder demokratische noch feministische Werte eine Rolle, obwohl Baerbock diese Agenda für den innenpolitischen Gebrauch hervorhob. Hier erwies sich die Außenministerin als Realpolitikerin, die um die Macht der Länder in der Region wusste.
Häufig betonte Baerbock die guten Beziehungen zur Region, doch die Zivilgesellschaft nahm das anders wahr. Seit dem 7. Oktober stoßen mit der Bundesrepublik verbundene Organisationen in der arabischen Welt auch auf Ablehnung. Die Unterstützung Israels durch die Bundesregierung wird dort als unerschütterlich wahrgenommen. Daran änderte sich auch wenig, als Baerbock sich für die Fortsetzung der Hilfen für das umstrittene Palästinenserhilfswerk UNRWA einsetzte.

Asylreform
Die Zustimmung der Bundesregierung zum EU-Asylkompromiss bezeichnete Annalena Baerbock als einen ihrer schwierigsten politischen Tage. Die Reform des Asylsystems (GEAS) sieht schnellere Rückführungen, eine Verteilung von Flüchtlingen in der Europäischen Union und Asylverfahren direkt an den EU-Außengrenzen vor. Die grüne Parteispitze hat versucht, einen Kompromiss zwischen der politischen Realität und dem humanitären Anspruch der Partei zu finden. Die GEAS-Reform führte jedoch zu erheblichen innerparteilichen Spannungen. Während Baerbock die Reform als notwendigen Schritt zur Bewältigung der Migrationskrise darstellte, lehnten viele Parteimitglieder und die Grünen im Europaparlament die Reform als „historischen Fehler“ ab.
Amtsverständnis und Auftritt
Wer immer an die Spitze des Auswärtigen Amtes tritt, erbt eine alte Rivalität. Auf der einen Seite stehen die selbstbewussten Diplomaten, auf der anderen Seite befindet sich das Kanzleramt, das zunehmend die Außenpolitik an sich zieht. Das Ansehen jedes Ministers im eigenen Haus hängt stark von dessen Fähigkeit ab, sich gegenüber dem Kanzleramt zu behaupten. Hier ist Baerbocks Bilanz bestenfalls gemischt.
In der Öffentlichkeit konnte sie häufig punkten als Verfechterin klarer Prinzipien, etwa gegenüber China – schon aufgrund der kommunikativen Schwächen des Kanzlers. Im tatsächlichen Regierungsgeschäft war das zum Verdruss ihrer Leute anders. „Im Wettbewerb mit dem Kanzleramt wurde das Auswärtige Amt permanent ausgebremst und vorgeführt. Der Konflikt mit dem Bundeskanzler war für Baerbock ständig ein schwieriges Element“, urteilt Claudia Major, Vizepräsidentin des German Marshall Fund.
Das Amt selbst ist nicht minder gespalten über die Leistung der Chefin. Nachdem sie in der Anfangsphase noch Kontakt auch in die unteren Ebenen gesucht hatte, war die Zahl der Leitungsgespräche am Ende stark zurückgegangen. Baerbock kümmerte sich um Baerbock, die Staatssekretäre kümmerten sich um das diplomatische Geflecht und die Dossiers. Anders als Frank-Walter Steinmeier machte sich die Ministerin den Apparat nicht wirklich zunutze.
Baerbock regierte nach Aussage diverser Quellen mit ihrem engsten Umfeld, ihrer Büroleiterin und dem Leitungsstab, und legte besonderen Wert auf eine Intensivbetreuung des Referats 013, das für die Öffentlichkeit zuständig ist, bis hin zum Social-Media-Auftritt.
Bei Reiseplanungen und Auftritten managte Baerbock jedes Detail. Immer ließ sie sich mehrere Alternativoptionen für den Kalender vorbereiten, die bis ins Detail geplant werden mussten. Botschaften in aller Welt starteten Verzweiflungstelefonate mit der Zentrale, wenn ein Ministerinnen-Besuch bevorstand. Zu wenig berechenbar waren die Reisen für die Arbeitsebene.
Am öffentlichen Auftritt Baerbocks scheiden sich die Geister. Im Unterschied zu Scholz hat sie es als Außenministerin vermieden, schlecht vorbereitet vor eine Kamera zu treten. Allerdings wirkten ihre Stellungnahmen häufig einstudiert und langatmig in einer diplomatischen Floskelsprache. In Interviews ließ sie Fragesteller kaum zu Wort kommen.
Was bleibt?
Die Frage, was Baerbock hinterlässt, ist nach ihrer relativ kurzen Amtszeit schwer zu beantworten. Eine „große Legacy“, ein wirkliches Erbe, kann DGAP-Experte Meister nicht erkennen. Allerdings ist auch nicht definiert, woran Erfolg und Misserfolg gemessen werden, wendet Major ein: „War ein Gabriel anders, war ein Maas anders? Man muss sich über den Maßstab Gedanken machen. Messe ich die Leistung an der Zahl der Reisen, an der öffentlichen Wirkung, an konkreten Projekten?“ Baerbock jedenfalls hat durch den kraftvollen Einsatz ihrer Persönlichkeit die Riege der Schiedsrichter glatt gespalten.