Über Gaza-Stadt liegt an diesem Nachmittag Dunst. Schar Schnorman kann die Dächer trotzdem erkennen, wenn er über das Tor zu seinem Kibbuz Kfar Aza blickt. In seinem Rücken sind noch immer die zerstörten Häuser seiner Nachbarn zu sehen, die Einschusslöcher und die Brandflecken. Vieles hier ist einfach so geblieben seit dem Angriff der Terroristen der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas am 7. Oktober 2023. Seit viele Menschen hier sterben mussten und einige von ihnen verschleppt wurden, durch das offene Tor, in Richtung Meer. Schnorman, 63 Jahre alt, ein großer Mann mit tiefer Stimme, Cap und Turnschuhen, lebt hier jetzt wieder. Er kam zurück, nachdem das Militär die Häuser gesichert hatte und die Opfer begraben waren, und begann, für die Soldaten zu kochen.
Schnorman hatte sich am Tag des Angriffs in seinem Haus verschanzt. Hatte zugehört, wie Männer auf seiner Terrasse saßen und Arabisch sprachen, gerochen, dass sie in seiner Wohnung rauchten. Doch sie fanden ihn nicht. Schnorman überlebte und er weiß nicht warum. Aber viele der Menschen, mit denen er mehr als zwanzig Jahre in diesem kleinen Ort lebte, überlebten nicht. Wer trägt die Verantwortung für all das? Schnorman sagt einen erstaunlichen Satz: „Ich gebe nicht der Hamas die Schuld, ich gebe meiner Regierung die Schuld.“
Der Geheimdienst gibt Fehler zu – aber auch die Regierung sei nicht unschuldig
Der Staat Israel, militärisch hochgerüstet und berühmt für seine Geheimdienste, wurde von dem Angriff der Hamas vor rund eineinhalb Jahren überrascht. Das mussten sowohl die Armee als auch der für Terrorismusbekämpfung zuständige Inlandsgeheimdienst einräumen. Der Geheimdienst legte vor knapp zwei Wochen eine Analyse vor, in der er eigene Fehler klar benannte: Hätte der Dienst anders gehandelt, heißt es darin, „hätte das Massaker vermieden werden können“. In dem Bericht wurden allerdings auch politische Fehler genannt, solche, die in der Verantwortung von Benjamin Netanjahus Regierungskoalition liegen. Die Besuche israelischer Politiker auf dem Felsendom, dem Heiligtum der Muslime, waren darunter, oder auch die Situation für palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen.
Vor einigen Wochen begann der Geheimdienst zudem Ermittlungen gegen Büromitarbeiter von Ministerpräsident Netanjahu, um zu prüfen, ob diese finanziell mit Katar verstrickt waren. Gegen Netanjahu steht schon länger der Vorwurf im Raum, dass er die Hamas mit Geld aus Katar gestärkt haben könnte. Die Idee seiner Regierung sei gewesen, die Palästinenser, die im Gazastreifen und im Westjordanland leben, zu spalten, um ihre Chancen auf einen eigenen Staat zu sabotieren. Stattdessen, so lautet die Kritik, habe die Hamas auf diese Weise aufrüsten können.
Am Sonntagabend gab Netanjahu nun bekannt, dass er den Chef des Geheimdienstes, Ronen Bar, entlassen will – trotz der Ermittlungen des Dienstes gegen die eigenen Mitarbeiter. Die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara teilte umgehend mit, dass diese Angelegenheit „außerordentlich heikel und beispiellos“ sei und sie besorgt sei, dass die Ermittlungen durch „Interessenkonflikte beeinträchtigt werden könnten“. Netanjahu hatte in seiner Erklärung von fehlendem Vertrauen zwischen ihm und Ronen Bar gesprochen. Die Position des Geheimdienstchefs sei aber keine, die vom persönlichen Vertrauen des Ministerpräsidenten abhänge, hieß es von der Generalstaatsanwältin.
Die Armee war nicht darauf vorbereitet, dass gleich mehrere Gemeinden in dem Ausmaß angegriffen werden
Die geplante Entlassung von Ronen Bar ist der bisherige Höhepunkt von Netanjahus Weigerung, sich seiner Verantwortung für die Geschehnisse am 7. Oktober zu stellen. Auch sein ehemaliger Verteidigungsminister Yoav Gallant drang noch im Sommer auf eine Untersuchung der Rolle der Regierung und der Armee bezüglich des 7. Oktobers. Im November wechselte Netanjahu auch ihn aus.
Die Armee hat unterdessen, wie der Geheimdienst, eigene Analysen veröffentlicht. Sie setzte sich mit ihrem taktischen Vorgehen in den einzelnen Orten des Massakers auseinander, Soldaten stellten die Ergebnisse jeweils den Bürgern vor. Für Kfar Aza, so berichtet es die Times of Israel, sei die Armee zu dem Schluss gekommen, dass sie „versagt“ habe, die Einwohner hier zu schützen. Vor allem, weil sich das Militär nie darauf vorbereitet habe, dass mehrere israelische Gemeinden in einem groß angelegten Angriff gleichzeitig angegriffen würden. Im Gegensatz zu anderen Städten hätten die Kämpfe in Kfar Aza nach dem ersten Angriff noch tagelang angehalten, da sich Terroristen in den Häusern des Kibbuz versteckt hatten. An den Wänden in Kfar Aza sind noch die Markierungen der Soldaten zu sehen. „C“ für clean und das Datum der Kontrolle. Sie zeigen, dass die Häuser erst Tage nach dem Angriff überprüft wurden. Den letzten Hamas-Kämpfer fand die Armee am 10. Oktober. Bis heute sind zwei junge Männer aus Kfar Aza noch als Geiseln in Gaza, die Zwillinge Ziv und Gali Berman.
Die Armee stellte in ihren Analysen ebenfalls fest, dass der Umgang mit der Hamas in den vergangenen Jahren eine Ursache für den Angriff gewesen sei. Die Entscheidung Israels, auf Konfliktmanagement zu setzen und die Lebenssituation der Menschen in Gaza zu verbessern, sei rückblickend falsch gewesen. Ein ehemaliger Oberst des Militärs, Reuven Ben-Shalom, der heute zu Terrorismusbekämpfung forscht, sagt: „Wir hatten uns auf gezielte Angriffe der Hamas vorbereitet, einen durchbrochenen Zaun hier, einen Angriff auf eine Militäreinheit dort.“ Doch ein Angriff dieser Größenordnung, bei dem nach israelischen Angaben rund 1200 Menschen starben und 251 entführt wurden, habe niemand kommen sehen: „Wir wussten es nicht. Wir haben uns nicht darauf vorbereitet.“
Auch der damalige Armeechef Herzi Halevi ist mittlerweile zurückgetreten, er hat Verantwortung für dieses Versagen übernommen. Sein Nachfolger Eyal Zamir ist seit Kurzem im Amt. Netanjahu aber ist geblieben. Die Opposition will gegen die Entlassung seines Geheimdienstchefs klagen, Bürger planen große Demonstrationen. Sie wollen, dass sich der Ministerpräsident den Untersuchungen stellt.